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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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als beiuns? Bist du glücklich? Ich will sie fragen, aber ihre Augen bitten mich, es nicht zu tun. Sie sagen: Wie geht es euch im alten Europa? Kann man dort leben nach allem? Ruhig schlafen? Wärt ihr lieber hier? Bist du glücklich?
    Die Dallas Mavericks spielen gegen die Miami Heats im Finale. Basketball: ein Rätsel für mich. Die Villa hat eine Art »Haus-Kino«, es gibt Kinosessel, Süßigkeiten. Wir starren auf die riesige Leinwand, ohne tiefsinnige Gespräche führen zu müssen. Die Kinder sind begeistert, stopfen sich bergeweise Marshmallows rein, während sie in den überdimensionalen Kinosesseln versacken. Georg geht es blendend. Sport ist ein Atlantik- und familienübergreifendes Ereignis. Er hat sich mit Cousin 2 und 3 zusammengetan. Sie röhren und brüllen. Es ist, da bin ich mir sicher, kein Englisch. Man mag ihn und er scheint sich wohlzufühlen. Ich habe Kopfweh. Die Popcornreserven würden bequem für ganz Bayern ausreichen.
    »Dirk Nowitzki is in form«, sage ich, »at his best.«
    »Yes«, sagt Klara und bietet mir ein ufogroßes Aspirin an. »You look like you could need one.«
    »Es ist seltsam«, nuschelt sie jetzt auf Kroatisch, »seltsam mit der alten Welt. Sie ist klein, kompliziert und voller Geheimnisse.« Ihr Kroatisch klingt kindlich, wie meins.
    Die Miami Heats haben gewonnen. Die Cousins küssen sich, und wir bekommen die amerikanische Flagge auf die Wange gemalt. Es lässt sich nicht ändern.
    Dann reisen wir alle nach New York zum eigentlichen Ereignis: der Bat-Mizwa.
    Kaum angekommen, sind alle pausenlos mit der Organisation und den Frisuren beschäftigt, sodass wir uns erst am nächsten Morgen vor dem Tempel wiedertreffen.
    In der Synagoge hat man die Air Condition eingeschaltet, mir frieren vor Kälte die Finger ab. Meine amerikanische Familie sieht aus wie eine amerikanisch-jüdische Variante aus »Baywatch« oder »Dallas«. Ich hätte es nicht für möglichgehalten, dass sich auch jüdische Haare derart drastisch toupieren lassen. Der Gottesdienst nimmt kein Ende. In dieser Reformsynagoge darf jeder eine Anekdote zum Besten geben, sich bedanken, singen. Die Gemeinde macht reichlich Gebrauch davon. Das haben sie nun vom Reformieren. Deborah, die jüngere Cousine, lebt in New York und ist vielleicht dadurch europäisch geblieben. Sie ist schlank, wirkt nervös und ferngesteuert. Wir sind eine Familie, passen aber so gar nicht zusammen.
    Die Bat-Mizwa-Party geht bis spät in die Nacht. Der dicke Entertainer hat seinen Job wirklich gut gemacht. Er hat gesungen, Spiele angeleitet, die Kids nicht aus seinen Klauen gelassen. Jetzt ist er komplett verschwitzt und seine gute Laune ist vertraglich beendet. Er nimmt Abschied, kündigt uns als letzte Nummer an. Als wir auftreten – mein Mann mit Akkordeon, David mit einer Trommel, Sammy schlägt die Triangel und ich singe –, starrt man uns an, als seien wir geradewegs aus dem Stetl entflohen. Wir beginnen zu singen. Unerbittlich altmodisch kommt die Musik direkt aus uns heraus. Wir singen ein altes jiddisches Lied: »Glick, du bist gekummen, aber a bisl zu speyt«. Eigentlich das einzige jiddische Lied, das wir können. Es ist so still, dass es zum Fürchten ist. Die Alte Welt bricht über die Neue herein, das lässt sich nicht leugnen.
    Wir haben schon lange unser Lied beendet, als der Applaus einsetzt. Ich weiß nicht genau, ob er dem Staunen, der Rührung oder sogar dem Mitleid entspringt. Man gibt uns die Hand, hier und da einen Klaps, grinst uns an wie Tiere im Zoo. Ein Paar weint. Meine amerikanische Verwandtschaft ist fassungslos. Klara wirkt mitgenommen, als hätte unser Singen sie an eine Zeit lange vor dem Krieg und an ein Land erinnert, das sie zu vergessen versucht hat und das nun vor ihr steht. Man bedankt sich – manche überschwänglich. Sogar das kleine Bat-Mizwa-Mädchen nimmt meine Hand und sagtartig: »Thank you, it was nice – nice and strange.« Ja, mir geht es ähnlich. Es war schön hier – schön und merkwürdig. Die Neue Welt schmeckt wie ein Familienkuchen, von dem man das Rezept verloren hat und den man nach Gefühl backt. Alles ist süßer als geplant und mächtig aufgegangen.
    »Take care«, und »viel Glück«, flüstert mir Klara zu, bevor wir uns trennen. Dann drückt sie mich kurz und fest an sich. »Maybe we will all meet again at Davids Bar-Mizwa.«

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    auf der suche nach dem afikoman
    Vor einigen Tagen habe ich Raffis Geburtstag vergessen. Er hat mich angerufen, wegen einer Lappalie, wir
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