Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
Vom Netzwerk:
mein Onkel Miko mir in gesichertem Abstand folgte. Er wollte mich beschützen, auf mich aufpassen, ohne mich einzuschränken.
    Onkel Miko starb, als ich für einen Tag ans Tote Meer gefahren war. Er fiel einfach um und war auf der Stelle tot. Ich rief an, um meine Rückkehr anzumelden, seine Frau schrie in den Hörer, es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was passiert war. Schon am nächsten Morgen war die Beerdigung, meine erste israelische Beerdigung. Auf einem Hügel wurde er beigesetzt, der Wind trieb uns den Sand in die Augen. Es ging sehr schnell, der Kaddisch wurde gesprochen. In einem weißen Leinentuch sah ich meinen Onkel in die Erde sinken, dabei hatte ich ihn doch gerade erst kennengelernt.
    Wenig später reiste ich zurück nach Deutschland. Man hatte mich zum Schauspielstudium zugelassen. Meine aliya hatte genau drei Monate gedauert. Damit legte ich meine zionistische Zukunft zu den Akten, das mit dem Auswandern hatte sich erledigt. Ich war eigentlich ganz froh über diese Wendung des Schicksals. Ein Jahr brauchte ich, um die zehn israelischen Kilos wieder loszuwerden. Übrig blieben Eindrücke von den Volkstänzen am Freitagabend auf den Dächernder Universität in Haifa, von den heimlichen unkoscheren Fressgelagen am Strand von Akko, vom Toten Meer und den Roten Bergen in Eilat, die aussehen, als könne sie nichts mehr erschüttern, auch nicht die Gegenwart Israels. Die Eindrücke wirkten lange nach, aber sie waren nie stark genug, um mich zu einer echten Zionistin zu machen.
    Es ist trotz Dezember noch heiß in Eretz Israel, als ich aus dem Flugzeug steige. Zwei noch rüstige Greise in voller Partisanenmontur halten ein Schild hoch mit der Aufschrift: »Adriana, Tochter von Jakob und Thea«. Ich möchte im Erdboden versinken. In einem winzigen Wagen fahren wir sofort zum Partisanentreffen. Zwischen Tel Aviv und Jerusalem halten wir an. Im Halbschatten eines Waldes werden Klappstühle aufgestellt. Es ist ihr Wald. Ihr Wald der Gerechten. Sie haben ihn gespendet bekommen oder sich selbst gespendet. Alles der Erinnerung wegen. Manche nicken während der langen Ansprachen ein, andere atmen schwer, fächeln sich Luft zu. Sie sehen gar nicht wie Krieger aus. Sie sind alt, faltig und müde. Ihre Augen aber sind sehr wach und jagen mir Angst ein.
    Nach der Veranstaltung laden sie mich zu sich nach Hause ein. Sie lassen mich nicht mehr gehen. Von morgens bis abends höre ich dem Singsang ihrer Heldentaten zu, während sie sich hoffnungslos mit Soße bekleckern. Ich bestelle Ärzte, weil sie sich schwach fühlen, um sie wieder abzubestellen, weil es ihnen plötzlich wieder besser geht. Ich schnauze die Putzfrau an, weil sie angeblich klaut, um sie dann mit 20 Dollar zu trösten und zu bitten, sie solle aufhören zu weinen. Ich bin ihrer aller Tochter, denn ich bin die Tochter von Thea und Jakob, die mit ihnen im Widerstand gekämpft haben. Bei guten Nachbarn essen wir süßen Kuchen und bei Feinden noch süßeren. Sie zeigen mir, wem sie alles misstrauen, und singen die Hatikwa, die aus dem Radio tönt, zahnlos mit. Beiden Nachrichten schlafen sie ein und wissen hinterher alles besser, denn sie sind Reserveoffiziere der Geschichte.
    Alles geschieht in einem Mischmasch aus Kroatisch, Spaniolisch und Hebräisch, bis mein Kopf zu platzen droht. Dann lasse ich mich beschimpfen, dass meine Generation nichts versteht und alles ganz anders war, als wir jetzt glauben. Wenn ich dann abends vor Erschöpfung den Tränen nahe in ihren winzigen Wohnungen auf schmuddeligen Sofas hocke, zeigen sie mir ihre Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen sie an der Seite von Tito unter der roten Fahne die Brigaden anführen, Hvar und Rab befreien und den Lageraufseher bei lebendigem Leib vergraben.
    Auf der Rückfahrt werde ich eskortiert: Alle Partisanen begleiten mich zum Ben-Gurion-Flughafen. Sie haben mir einen Koffer voller Geschenke eingepackt, Badesalz vom Toten Meer, Nachtcremes aus Avocado, tanzende und singende Rabbi-Puppen. Ich habe genug Geschenke für drei Chanukkajahre. Sie bedanken sich feierlich für mein Kommen, ich habe meine Eltern würdig vertreten, ich habe sie ernst genommen, ihre Taten geehrt, Israel hat nicht so viel Zeit für alle seine Helden.

[Menü]
    panzerglas
    Nur wenige Tage nach meiner Rückkehr brechen erneute Unruhen in Israel aus. Das Fernsehen überträgt Bilder von Siedlern, die sich an ihre Häuser gekettet haben. Und von Palästinensern, die durch den Zaun dabei zusehen. Die Sicherheitsstufe in Berlin
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher