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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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Gustloff«. Die Filme waren opulent, Dresden brannte, und der arme Hitler hatte jede Menge unverarbeiteter Gefühle.
    Aber das alles dachte nur ich – und vielleicht Michael Degen. Die anderen kopierten uns und unsere Vorfahren, so genau, dass es uns selbst fast nicht mehr brauchte. David ging durch die Thematik wie Moses durchs Meer. Ich suchte nach Traumata oder Ähnlichem, aber er sprach über den Film mit dem gleichen Ernst wie über die Bundesliga. Er bewunderte den Regisseur, kannte die Vor- und Zunahmen aller Teammitglieder und sorgte dafür, dass der hebräische Kalender an der Wand richtig herum hing.
    »Chag Sameach, was machen Sie denn vor der Schule? Haben Sie Sorge, wir werden heute in die Luft gejagt?«
    Davids Hebräischlehrerin hat mich erwischt. Fröhlich lächelt sie mich an, plappert munter weiter. »Haben Sie unseren großen neuen Chanukkaleuchter am Brandenburger Tor gesehen? Ich finde, er macht sich prima neben all der überflüssigen Weihnachtsdeko, nicht wahr? Und heute ist im Eisstadion Chanukkaschlittschuhlauf, mit allen drei Rabbinern. Kommen Sie doch auf einen Glühwein vorbei, das wird amüsant. Chag Sameach.«
    Weg ist sie. Verschwunden auch meine Befürchtung eines Luftangriffs auf die Schule. Geblieben ist die Frage, wer am Sabbat amtieren wird, wenn alle drei Rabbiner im Gips liegen.

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    happy new world
    Am 1. Januar spätnachts rief mich meine Cousine Klara an, die älteste Tochter des Bruders meines Vaters, die Tochter von Reverend Albert. Sie lebt in Miami mit ihren drei erwachsenen Söhnen und einigen Enkeln. Sie sagte:
    »Happy New Year. Did I wake you up? We all miss you so much.«
    Dann legte sie auf. Ich hätte diesen Anruf fast vergessen, hätte nicht Deborah, die jüngere Tochter Alberts, Klaras Schwester, aus New York einen Brief geschrieben, in dem sie mich und meine Familie feierlich zur Bat-Mizwa ihrer Tochter June einlädt. Als PS steht unter der rosafarbenen Einladung: »Please come, we are your only living relatives. Debby«.
    Ich bin gerührt. Es stimmt natürlich. Von der kleinen Familie sind nur noch wenige übrig. Echte, leibliche Cousinen! Keine Brüder, aber immerhin Cousinen! Ich schreibe sogleich zurück: »Thank you so much! We are coming!« und kaufe Flugtickets nach Miami für die ganze Familie.
    Dich haben wohl die diversen Beerdigungen mürbe gemacht, sonst hättest du dir doch nicht all die Kosten und Mühen gemacht, nach Amerika zu reisen. Schließlich kennst du sie ja kaum! Aber recht so, recht so. Wie viele Verwandte haben wir denn noch? Und wie viele haben Bat-Mizwa? Schließlich ist David auch bald dran! Also pass lieber auf.
    Dibbuks sind sehr fürsorglich, sie folgen einem auch über den Atlantik …
    Klara, die uns am Flughafen abholt, hat ganz und gar amerikanische Formen angenommen. Sie hat Unmengen zugenommen und ihre Knie haben Mühe, mit dieser Last fertig zu werden. Das scheint niemanden zu stören, am wenigsten ihren Appetit.
    Zur Begrüßung fährt man uns zum ältesten ihrer drei Söhne, der in einer gewaltigen Villa wohnt. Eine überdimensionale Vase steht im Flur mit wahrscheinlich genmanipulierten zwei Meter großen Orchideen. Das Toilettenpapier trägt das Familienlogo und es gibt zwei ganze Lämmer als Vorspeise. Nach und nach trudeln die anderen beiden Söhne samt Familie ein, von ebenfalls genmanipuliertem Format. Ich frage mich, womit Klara ihre Familie großgezogen hat, am manipulierten Babybrei allein kann es nicht liegen … Vielleicht hat sich Amerika generell genetisch verändert? Ihr Ehemann, der Vater der Kinder, ist klein. Er ist gelernter Schneider. Sie haben zusammen mit einer Änderungsschneiderei angefangen und es mit unermüdlichem Fleiß zu einer florierenden Hemdenfabrik geschafft. »European Style« heißt jetzt ihr Familienbetrieb. Der maßgeschneiderte amerikanische Traum. Ich weiß nicht, was europäisch an ihren Hemden ist, aber das Wort »Europe« scheint in Amerika eine magische Wirkung zu haben: Sie haben es zu Millionären gebracht. Wir dagegen wirken wie europäische Zwerge, und die Portionen, die wir essen, bringen sie zum Lachen.
    Klara beäugt mich, auch ich starre sie an. Vielleicht hat sie Angst, ich würde sie um eine Bürgschaft bitten, um nie mehr nach Europa zurückzumüssen. Vielleicht aber erinnere ich sie auch an ein Land, das für sie ein ganzes Leben zurückliegt. Sie war zehn, als sie Kroatien verlassen hat. Wie geht es dir, Klara? Fehlt dir Europa? Ist es gut in Amerika? Besser
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