Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
haben diese lange erörtert und am Ende hat er gesagt, er gehe heute Abend zu einem Vortrag über Canetti. Schließlich habe er heute Geburtstag. Wie hatte ich den vergessen können! Tausendmal entschuldigte ich mich. Ich finde, Geburtstage sind heilig, man darf sie einfach nicht vergessen. Ich war bedrückt, Raffi tröstete mich, es sei völlig normal, Geburtstage zu vergessen. Er sagte, ich sei wie Levi. Levi riefe ihn immer zum Geburtstag an.
»Levi«, habe Raffi zu ihm gesagt, »wir sehen uns Jahre nicht, warum das Getue, warum rufst du mich am Geburtstag an?«
»Weißt du, Raffi«, habe dieser geantwortet, »ich bin im Krieg geboren, in diesem Krieg. Viele sind gestorben, ich lebe und deshalb haben Geburtstage für mich eine besondere Bedeutung.«
»Sag, Levi, wie viele Telefonnummern und Geburtstage kennst du denn?«
»Auswendig? 300, Raffi.«
»Ist das normal?«, fragte Raffi mich. »Ist Levi normal?«
Normal. Hm. Normalität muss so etwas sein wie »in sich ruhen« oder ein »Spartarif«. Alles Dinge, von denen behauptet wird, dass es sie gibt. Ich bin mir da nicht so sicher. Ich bin ihnen noch nie begegnet.
Ich weiß nur eins: Wir sind immer noch in Deutschland, nicht in Amerika und Raffi ist nicht in Israel. Nein, er ist dann doch nicht ausgewandert. Dafür ist er zu klug. Er schwärmt weiter vom Heiligen Land, von der großartigen Stadt Tel Aviv, ohne sie durch seine Gegenwart zu entzaubern. Das ist schlau. Die deutschen Fernsehzuschauer hängen nach wie vor an seinen Lippen und lassen sich in Sachen Deutsche und Juden, Liebe und Depression, jüdische Befindlichkeiten und deutsche Animositäten informieren. Ich finde es eine gelungene Symbiose. Beide Teile leiden zuweilen, genießen ihre Abhängigkeit voneinander und haben immer etwas zu diskutieren.
Keine zwei Tage später rief mich Raffi erneut an. Dieses Mal verzweifelt. Er bat mich, den Vorabend des Pessachfestes, den Seder, bei mir auszurichten, denn er hätte Heimweh. Wonach genau, könne er nicht genau sagen. Mit Heimweh lässt sich nicht spaßen. Ich ließ mich breitschlagen und ging einkaufen …
Mein erstes Pessachfest war ein traumatisches Erlebnis und fand in Brüssel statt. Warum gerade in Brüssel? Wahrscheinlich hielten meine Eltern es irgendwie für exotisch. Was es auch wirklich wurde. Meine Eltern waren in einem Anflug von Religiosität mit mir dorthin gefahren. Ich war 12 Jahre alt und hatte bis dahin kaum jüdische Feste begangen, außer gelegentlich Chanukka. Und das auch nur, wenn wir nicht zeitgleich wegfahren konnten und somit »Handlungsbedarf« bestand. Dann stellten sie einen winzigen Chanukkaleuchter auf, kauften einen noch kleineren Plastikweihnachtsbaum und sangen mir rasch die nötigsten Chanukkalieder vor. Schenkten mir Briefmarken, Goldmünzen oder sonst etwas Nützliches und setzten sich erleichtert vor die Tagesschau. Erst später, im Alter, legten sie ihre sozialistisch bedingte Scheu vor der Religion ab.
Die Zeremonie damals in Brüssel dauerte 5 Stunden undfand auf Hebräisch statt, mit belgischen Erklärungen. Noch Jahre danach wollte ich weder nach Brüssel fahren noch Pessach feiern.
Der Sederabend ist dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten gewidmet. Gemeinsam am Tisch sitzend wird die Haggadah gelesen, die an die Stationen und Wunder bei diesem 40 Jahre währenden Marsch erinnert. Da die Juden sehr plötzlich und heimlich loszogen, hatte das Brot keine Zeit zu gären. Im Gepäck also befand sich der Teig, der heute als Mazze berühmt geworden ist.
Eigentlich sind sich alle Juden einig, dass ihre Feiertage folgendermaßen aufgebaut sind: »Man wollte uns töten, wir haben gesiegt, kommt, lasst uns essen.« Dummerweise hält sich niemand daran, gerade das Pessachfest ist mit einem enormen Aufwand verbunden. Die Wohnung muss zunächst »koscherle-pessach« gemacht, das heißt geputzt und von allem Brot und Mehl befreit werden. Der geschickteste biblisch verordnete Frühjahrsputz, den man sich vorstellen kann! Dann wird der Sederteller vorbereitet, auf dem die an den Auszug erinnernden Speisen platziert werden: Unter anderem Salzwasser der geflossenen Tränen wegen, Bitterkraut, um an die bittere Zeit der Sklaverei zu erinnern, gekochte Eier als Zeichen für Vergänglichkeit und Fruchtbarkeit und noch einige symbolgeladene Nahrung mehr. Ein Jahresurlaub genügt kaum, um mit allem fertig zu werden.
»Gehören die alle zu ihm?«, fragt Sammy mich in der Küche leise. Raffi hat die Einladung zum
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