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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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ist erhöht. Vor den Schulen der Gemeinde und anderen jüdischen Einrichtungen wird das Polizeiaufkommen verdoppelt. Absperrgitter werden aufgestellt, neue Betonpfeiler werden eingelassen. Die Berliner Öffentlichkeit ist nervös. Ich bemühe mich, gar nicht erst Panik aufkommen zu lassen, und schicke die Kinder in die Schule, als wäre nichts Besonderes. Dennoch durchsuche ich die Zeitungen nach den neuesten Meldungen aus dem Nahen Osten. Ich rufe meine Cousine Nili an, die im Auswärtigen Amt in Tel Aviv arbeitet.
    »Ken?«, raunt sie ins Telefon und freut sich in israelischer Lautstärke, mich zu hören.
    »Nili, was ist los bei euch?«, falle ich mit der Tür ins Haus.
    »Bei uns? Was soll sein? Nichts. Alles wie immer. Be’ Emet! Ganz sicher! Nicht mehr und nicht weniger als sonst.«
    Wahrscheinlich brennt die Wüste, aber dort hat man sich daran gewöhnt. Ich denke an meinen Freund Ruben aus Ramat-Gan in Tel Aviv – also ganz nahe bei Gott –, der sich am dritten Gebot versündigte und einen anderen Gott neben unserem duldet: das Fernsehen. Bei der letzten Intifadaverbrachte er Tage und Nächte vor dem Fernseher, um alle Nachrichten zu hören, allenfalls unterbrochen von Fußballmeldungen – Fußball: sein dritter Gott.
    Er rief regelmäßig an, um uns zu beruhigen. Aus dem Fernsehen, aus sicherer Quelle, wusste er, dass die Pershings der Araber nicht über die nötige Reichweite verfügten, um in Tel Aviv einzuschlagen. Konzentriert auf den Fernseher und die Nachrichten, bemerkte er nicht, wie die Hälfte seines Hauses einstürzte. Noch im Keller, in dem er die Nacht verbrachte, konnte er es nicht verstehen. Ruben rufe ich nicht an. Er würde mich beruhigen, aber es würde mir nichts nützen.
    Im Grunde bin ich kein panischer Typ. Ich habe mich an das Panzerglas in der Jüdischen Oberschule gewöhnt, auch wenn ich an schwachen Tagen die schweren Türen gar nicht erst aufkriege. Dann warte ich unauffällig, bis russische Väter ihre Kinder abholen. Gebaut wie die Klitschkos ist es für sie ein Leichtes, die Türen aufzudrücken – und ich schlüpfe hinein.
    Die Grundschule heißt »Heinz-Galinski-Schule«, benannt nach dem ersten Nachkriegsvorsitzenden der Jüdischen Gemeinde. Er war ein griesgrämiger Überlebender, man munkelte, er sei ein Kapo gewesen, aber sicher war sich keiner. Sicher ist nur: Er brachte die Nachkriegs-Gemeinde auf Vordermann. Im Eingang des Gemeindehauses in der Fasanenstraße hängen Fotografien von ihm und Willy Brandt, von ihm mit Helmut Schmidt, mit Helmut Kohl, Strauß, Genscher und natürlich Kennedy. Er roch streng, ich mochte ihn nicht sonderlich, mir ging seine Politik der Angst und des Vorwurfs auf die Nerven. Den Gemeindemitgliedern gefiel er und alle hatten Respekt vor ihm – vor allem die nichtjüdischen Politiker.
    Die Schule aber mit seinem Namen ist schön, ihr Architekt ein fantasievoller Mensch. Inzwischen schmückt sich Berlin sogar mit vier weiteren Jüdischen Schulen. Von semi- bisultraorthodox. Die Lubawitscher aus Brooklyn, die Lauder aus Paris … Da ist unsere Gemeindeschule noch das aufgeschlossenste Etablissement. Vor der Schule stehen zwei ältere, gemütliche Polizisten, die wiederum von acht jungen, entschlossenen Israelis des Geheimdienstes bewacht werden. Sammy, mein jüngerer Sohn, wird von allen begrüßt, wenn er mit dem Schulbus ankommt. Er möchte Polizist oder israelischer Soldat werden. Am liebsten beides.
    Als ich zum ersten Elternabend in Sammys Klasse kam, war ich wie vor den Kopf gestoßen: Von vierundzwanzig Kindern waren zweiundzwanzig russischer Abstammung, dementsprechend waren die Eltern. Alle schwiegen den Lehrer verbissen an, der verzweifelt nach den richtigen Worten suchte. Wenn dennoch einer von ihnen sprach, tat er es auf Russisch. Eine rothaarige Frau war zum Übersetzen abgestellt. Ob es im Ostblock nur eine Farbe zum Haarefärben gegeben hat?, schoss es mir unnötigerweise durch den Kopf. Sie übersetzte unwillig und nur Bruchstücke. Es herrschte Kalter Krieg. Irgendwann platzte mir der Kragen. »Sind wir hier beim KGB , oder was?« Man schmunzelte gleichmütig, asiatisches Schweigen.
    Bald wurde Sammy zu Geburtstagsfeiern eingeladen. Sie fanden in riesigen Bowlinghallen oder auf gemieteten Indoor-Fußballplätzen statt. Die Kuchen waren von enormem Format, ebenso wie die Mütter und Großmütter. Ich erfuhr, dass von den 22 Familien ganze 20 bei ein und demselben Hotelbesitzer arbeiteten, der einen brutalen und
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