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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Autoren: Adriana Altaras
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ganz zu schweigen.« Zu einem intensiveren Gespräch kam es mit ihnen nicht.
    Man übertrug mir die Aufsicht über das Kinderhaus. Es stand im Mittelpunkt des Kibbuz, direkt neben dem Gemeindehaus. Alle Kinder mussten in sozialistischer Tradition dort abgegeben werden, sogar nachts blieben die Größeren zum Schlafen. Natürlich waren die Mütter den ganzen Tag da, sorgten dafür, dass ihre Kinder bevorzugt wurden, und machten mir unmissverständlich klar, dass ich nichts zu melden hätte. Als die Kinder den Kibbuzesel in die Küche führten und dieser auf Biegen und Brechen nicht mehr hinauszubekommen war, wurde allen klar, dass ich der Aufgabe nicht gewachsen war. Ich war neunzehn, die ältesten Kinder fünfzehn Jahre alt. Ich wurde zu den Hühnern versetzt. Morgens um vier, wenn es noch kühl war, begannen wir, die Hühner in Käfige zu stopfen, damit sie zum Verkauf auf den Markt gebracht werden konnten. Die Hühner pickten einem in die Hände und Arme, sie wehrten sich – verständlicherweise. Alle zwei Tage rief mich mein Vater an. Ich wurde über Lautsprecher im ganzen Kibbuz ausgerufen, dann stand ich an der offenen Telefonkabine unter der Büste von Ben Gurion und versuchte, die Enttäuschung über das Gelobte Land vor meinem Vater so gut wie möglich zu verbergen. Nach sechs Wochen konnte ich die Buchstaben des hebräischen Alphabets unterscheiden und hatte zehn Kilo zugenommen. Es gab immer Huhn mit Quark, stark gezuckerte Säfte gegen den Durst und Nutella zum Nachtisch. An manchen Wochenenden kamen die »Kinder« des Kibbuz nach Hause: junge Soldaten und Soldatinnen, zu früh erwachsen geworden. Sie lagen herum, machten zynische Bemerkungen und sonntagabends fuhren sie wieder. Sie erinnerten mich an meine letzten Jahre im Internat, wenn wir sonntags zurückkamen und uns zynisch benehmen mussten aus lauter Leere und Einsamkeit. Mir gefiel das Gemeinschaftsleben, obwohl esin Neve Yam auf ein Minimum reduziert war. In Haifa, der nächstgrößeren Stadt, traf man sich. Am Sabbat tanzten die Jugendlichen gemeinsam die ganze Nacht Volkstänze. Die Stimmung war gewaltig, und die Soldaten, die am heftigsten tanzten, vergaßen alles um sich herum. Einen Augenblick lang. Dann fuhren alle zurück zu ihrem Dienst, ich in meinen Kibbuz.
    Schließlich kam meine Kajütenbekanntschaft Robbi Cohen zu Besuch. Er schwärmte vom Land, der Natur und den Leuten. Als er fort war, nahm ich meinen gesamten Kibbuzjahresurlaub und verschwand nach Jerusalem. Neve Yam sah mich nie wieder. Ich habe es nicht vermisst.
    Vielleicht fällt es leichter, das Land zu mögen, wenn man ARD -Korrespondent in Israel ist. Wenn etwas passiert, hat man ordentlich zu berichten. Und es passiert immer etwas. Eine ausgewogene Beziehung.
    Wenn neben mir im Bus ein Israeli seine Uzi auf den Knien hielt und schlief, war ich mir sicher, sie war entsichert, würde bei der nächsten Bodenwelle losgehen und ein Massaker anrichten. Natürlich passierte das nie.
    Dennoch stieg ich, als ich damals zu meinem Onkel fuhr, schweißgebadet in Jerusalem aus. Auch die leckeren Käsekuchen in den Auslagen konnten mich über Stunden nicht beruhigen.
    Ich mochte die Ben-Jehuda-Street. Sie war altmodisch und belebt. Sie zeichnete sich durch eine Vielzahl an Miederwarengeschäften aus. Keine Dessous, eben Miederwaren. In den Auslagen hingen enorme, vergilbte Büstenhalter, mit Nadeln an die samtene Unterlage geheftet wie Schmetterlinge. Einige wenige sogar mit Blümchen. Im Halbdunkel der Läden saßen Orthodoxe, die schweren Köpfe auf die Hände gestützt, traurige Augen über Brüsseler Spitze.
    Ich hatte mich nach der überstürzten Flucht aus dem Kibbuz bei meinem Onkel Miko einquartiert, dem Bruder meinesVaters. Er war früher als Schiffsingenieur zur See gefahren, verkaufte jedoch mittlerweile seit über 30 Jahren miz , süßen Saft, an der Klagemauer. Er war ein zufriedener alter Herr, auch wenn seine Frau Thilda schweres Rheuma hatte und aus dem Bett heraus mit quäkender Stimme fortwährend Befehle erteilte. Die Wohnung war winzig, feucht und lag im Parterre. Über dem Ehebett hing ihr Hochzeitsfoto. Zwei kleine stattliche Personen auf der Uferpromenade in Split.
    An den Nachmittagen kamen stets Leute zu Besuch, auch um mich zu sehen. Sie sprachen Spaniolisch, das Spanisch der sephardischen Juden, und Serbokroatisch, aßen Burekas und gingen wieder. Wenn ich mich heimlich davonstahl, um über die Plätze und Märkte von Jerusalem zu streifen, merkte ich, wie
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