TKKG 073 - Hilflos in eisiger Nacht
Drittens wärme ich meine Schoko nur, weil sie aus der Hosentasche so tiefgekühlt kommt wie aus dem Eisschrank."
"Du solltest sie nur noch achselar tragen."
"Das würde sie überwärmen."
Karl grinste, trat fröstelnd von einem Bein aufs andere und wandte dann seine Aufmerksamkeit zur Straße, wo ein Wagen hielt, ein Mercedes. Eine ältere Dame saß am Lenkrad. Sie war stark chloriert, wie die Jungs feststellten, sowohl im Gesicht wie auch im Haupthaar. Letzteres hatte eine möhrengelbe Einfärbung, die von schwarzen Strähnen durchzogen wurde.
Vielleicht will sie zum Fasching, dachte Karl.
Die Frau blickte her, war einen Moment unschlüssig, stieg dann aus und trat zum Kofferraum. Sie war ziemlich
groß, knochig und gehüllt in einen abgetragenen Pelz, den Karl als domestizierte Ratte einstufte.
Im Mundwinkel schuckelte eine Zigarette. Und die Frau oder Dame sagte durch eine kleine Rauchwolke: "Heh, ihr!"
"Meinen Sie uns?" fragte Karl.
"Es ist ja sonst keiner da."
"Dann bitte!"
"Könnt ihr mir mal helfen?"
"Gern!" behauptete Karl mit dosierter Begeisterung.
Klößchen rang sich ein Nicken ab.
Die Frau öffnete den Kofferraum.
"Die hier müssen in den Container. Aber mir sind die Kartons zu schwer."
Karl und Klößchen traten zu ihr und blickten in den Transportraum für Gegenstände, der im Augenblick nur Leergut enthielt, nämlich vier große Kartons, angefüllt mit Flaschen. Sie waren alle gleich: leere Wodkaflaschen der Marke IGOR ZSAUFAUSKY.
Karl schätzte, dass es 80 Flaschen waren. Klößchen schätzte auch und tippte auf 100.
Jeder der Jungs griff sich einen Karton und stopfte in den Weißglas-Container, was rein ging: klirrklirrklirr. Wodka-Brodem schwebte umher. Eine Flasche aus Klößchens Karton fiel daneben. Die Frau sah zu und nahm für einen Moment die Zigarette aus dem Mund.
"Sie haben sicherlich eine Kneipe", regte Klößchen die Unterhaltung an, "oder eine Bar. Und dieser Schnaps wird am meisten getrunken, wie?"
"Ich bin Privatperson", erwiderte die Frau. "Witwe. Immer wenn ich an meinen verstorbenen Mann denke, überfällt mich die Sehnsucht. Mir kommen die Tränen, und ich muss einen Wodka trinken."
Karl stopfte die letzte Flasche aus seinem Karton
hinein. "Sie gedenken oft des Verstorbenen?"
"Sehr oft. Täglich. Mehrfach. Manchmal denke ich auch an die ändern. Ich war sechsmal verheiratet.
Aber die ersten fünf taugten nichts, obwohl sie mir viel Geld hinterlassen haben. Wenn ich an die denke, kommt mir die Galle hoch. Auch dagegen hilft ein Wodka."
"Bei mir hilft Schokolade", Klößchen war mit dem nächsten Karton beschäftigt, "allerdings bin ich kein Witwer. Wir sind Schüler. Möchten Sie ein Stück Schoko?"
"Danke!" Sie lächelte durch ihre Puderschichten. "Aber die macht dick. Ich achte sehr auf schlanke Linie und gesunde Lebensführung."
"Sie meinen", sagte Karl und leerte den letzten Karton, "mehr als ein Laster wäre ungut."
"Was willst du damit sagen?"
"Ich weiß ja nicht, seit wann Sie diese Flaschen hier sammeln. Aber den Zsaufausky-Wodka gibt es bei uns erst seit der Wiedervereinigung. Und dann hätten Sie in den letzten Jahren entschieden zuviel getrunken."
"Hör sich einer den Knaben an!" meinte sie ärgerlich. "Will mir alten Mutter was vorschreiben. In 60 Jahren oder in 70 - wenn eure Frauen Witwen sind -, werdet ihr an mich denken."
"In 80 Jahren", antwortete Klößchen grinsend.
"Dicker Mops!" meinte sie böse.
Die Jungs hatten die Kartons in den Kofferraum geworfen. Karl schlug den Deckel zu. Die Frau war eingestiegen, ohne sich zu bedanken, ließ wütend den Motor an und erwischte dann den Rückwärtsgang.
Der Mercedes schoss los in die falsche Richtung. Und -klengggggggg - berührte unsanft einen gut durchgerosteten Altkombi, der in diesem Moment vorbeifahren wollte. Beide Fahrzeuge stoppten.
"Du meine Güte!” murmelte Karl.
In dem Rost-Kombi saß nur der Fahrer. Jetzt stieg er aus, hochrot das Gesicht, ein Wut-Gesicht.
Er war auffällig klein - einen Kopf kleiner als die Schnapsdrossel, die ebenfalls ausstieg -, hatte einen kahlrasierten Rundschädel, Rosinen-Augen und riesige Ohren. Auch die waren rot vor Wut.
"Sind Sie übergeschnappt!" brüllte er.
"Mäßigen Sie sich!" Die sechsfache Witwe schnippte ihm ihren Zigarettenrest vor die Füße. "Es ist ja kaum was passiert."
"Wie bitte? Sehen Sie das nicht?" Er wies auf die Beifahrertür. "Eingedellt! Zerstört! Der ganze Rost ist abgeblättert."
"Ich bin versichert, guter Mann.
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