TKKG 073 - Hilflos in eisiger Nacht
Veranstaltungen in den Ballsälen: Nacht der Steuerzahler, Ball der Junggebliebenen, Hausbau der Hartgesottenen, Filmball der Videofreunde, Bai pare der Altphilologen, Ausgeflippt in Idionesien und...
Aber da war das Pärchen schon vorbei; und Tim wusste nicht, ob ihn vom letzten Plakat ein Gesicht angegrinst hatte oder ein bemalter Po.
"Zu Martina begeben wir uns", meinte er, "sobald sie ihre Ganzkörper-Bewässerung beendet hat.
Wahrscheinlich frühstückt sie dann, und wir kriegen was ab."
"Gefällt sie dir?" fragte Gaby.
"Wer?"
"Martina! Ich rede von Martina!" funkelte Pfote ihn an.
Tim seufzte abgrundtief. "Sie ist schon verlobt."
Dann hatte er Mühe, im Sattel zu bleiben. Denn Gaby rempelte mit einem Schlenker nach links, was - gemessen an ihrer zarten Person - geradezu rowdyhaft war.
"Das ist Verkehrsgefährdung, liebste Gaby!"
"Dann sag nicht so was Anstößiges, hundsgemein Treuloses, sittenlos Verderbtes, was ja nur deinen zweifelhaften Charakter offenbart."
"Aber, Gaby, ich habe doch nur... "
"Eben! Und das lässt tief blicken. Wäre sie nicht verlobt, würdest du ihr Blumen bringen, wie?
Obwohl sie noch lebt und keinen Grabstein hat. Außerdem könnte sie deine Mutter sein, diese betagte Person!"
Tim lachte so laut, dass ihn seine ZwerchfellZuckungen fast vom Rad warfen; und Gaby, die das alles nicht ernst meinte, stimmte ein.
Sie erreichten den Westfriedhof, ein ausgedehntes Gelände, umgeben von mannshoher Mauer, die oben spitz-giebelig mit roten Ziegeln abgedeckt ist. Viele sind zerbrochen - auch Steine in der Mauer - und werden sicherlich irgendwann mal erneuert, sobald der Stadtkämmerer Steuergelder dafür bewilligt.
Auf dem Parkplatz drängten sich Autos. Auch Selbigs VW wurde von Tim entdeckt. Das Gittertor des Haupteingangs war geöffnet. Drei Dackel und eine Rottweiler-Hündin waren dort angebunden, denn für Hunde ist in Schwimmbädern und auf Friedhöfen der Zutritt verboten.
Gaby, die sich spontan in fast jeden Hund verliebt, ließ sich von jedem hier die Pfote geben. Die RottweilerHündin war ganz hingerissen, gab erst die Linke, dann die Rechte und wedelte wie irre mit dem Schwanzstummel. Auch zwei Dackel boten ihre Krummläufe zum Gruß, aber der dritte kapierte das nicht, war noch jung und machte Männchen am Torgitter wie ein Hase, der übers Kohlfeld späht.
Die Bikes wurden zusammengekettet.
Tim strich über Gabys Lenker. "Unsere Tretmühlen lehnen aneinander wie ein Paar."
"Sind sie doch auch", lächelte Pfote, "sie kennen sich genauso lange wie wir uns."
"Dann geht es hart zu auf den ledernen Jahrestag."
"Wie bitte?"
"Ich habe das entlehnt von den Symbolen der Hochzeitstage. Da hat jeder seine Bezeichnung. Vom ersten Jahrestag bis zum 15., dann in Fünfer- oder Zehnersprüngen. Ich habe das neulich auswendig gelernt
als Aufgabe beim Gedächtnistraining. 24 Jahrestage gibt es, die zu feiern wären. Sogar ein krummer ist dabei, nämlich nach 67-einhalb Jahren Ehekrieg. Das ist dann die Steinerne Hochzeit. Mit 70 Jahren verbriefter Zweisamkeit folgt die Gnadenhochzeit. Der erste Jahrestag heißt übrigens Baumwolle, der zweite Papier, der dritte Leder. Verwunderlich ist, dass nur so wenige gefeiert werden. Nämlich die Silberne Hochzeit nach 25 Jahren, die Goldene nach 50 Jahren, die Diamantene nach 60 Jahren, die Eiserne nach 65 - falls so hohe Jubelfeste überhaupt noch vergönnt sind. Aber alle zwischendurch werden ausgelassen. Warum wohl? frage ich mich."
"Vielleicht wegen der Kosten."
"Weil man die ganze Verwandtschaft einladen muss und alle Freunde?"
"Für manche ist das ein Grund."
"Oder", Tim grinste, "die Betroffenen wollen nicht an ihr Verhängnis erinnert werden."
"Bist du gegen die Ehe?" Sie blickte ihn an durch ihre seidigen Wimpern.
"Im Gegenteil. Aber es muss die Richtige sein."
"Den Richtigen setze ich voraus." Gaby seufzte. "Ich hoffe, ich finde ihn eines Tages."
"Ich schicke ihn dir, falls ich einen entdecke."
"Woher willst du wissen, was mein Geschmack ist."
"Da hast du auch wieder Recht. Dafür ist die LederÄra zu kurz."
Gaby hakte sich bei ihm ein. "Als Gnaden-Jubilar werde ich dich etwas stützen müssen. Denn dann bist du hoch in den Neunzigern."
"Aber immer noch vif", lachte Tim, "und kein Anwärter für einen hiesigen Liegeplatz."
Die sahen unterschiedlich aus, die Gräber, von schlicht bis protzig, aber alle waren gepflegt - sogar jene, die noch aus dem vorigen Jahrhundert stammten: Gräber von Menschen, an die sich niemand
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