Tochter der Nacht
eine Wolke wirkte auch der nebelhafte Schleier, der auf ihren Schultern lag.
Sie sprach, und ihre Stimme klang so sanft wie der Nacht-wind in den Zweigen der Bäume. »Fürchtet Euch nicht vor mir, mein Sohn. Ich weiß, Ihr seid stark und edel. Ihr seid den Gefahren der Reise mutig begegnet.«
Tamino öffnete den Mund, brachte aber kein Wort hervor.
Er fragte sich, ob diese zarte kleine Frau wirklicher war als die überwältigende Erscheinung der Göttin der Nacht. Welches war ihre wahre Gestalt…? Oder war sie in Wirklichkeit weder das eine noch das andere?
Die Königin sprach weiter, und ihre Stimme drang wie ein leises, trauriges Murmeln an sein Ohr: »Vor Euch steht die unglücklichste aller Frauen. Meine Tochter, das Kind meines Alters und der Trost meiner einsamen Witwenschaft, wurde mir von einem bösen Feind mit dem Namen Sarastro geraubt, und ich zitterte um ihr Leben. Ihr seid klug und stark. Und über einen aufrechten jungen Mann, wie Ihr es seid, einen Fremden in diesem Land, hat Sarastro keine Macht… Ich kann niemanden aus meinem Volk um Hilfe bitten, denn er hat allen seinen schändlichen Willen aufgezwungen.«
Finger, die so zart und weich wie Nebel waren, drückten Tamino etwas Hartes in die Hand. »Hier«, sie flüsterte wie der Abendwind in den Palmen einer Oase, »seht Ihr das Bild meiner Tochter. Gefällt es Euch? Euer Mut und Eure Stärke und Euer hoher Rang als Sohn des Kaisers machen Euch ihr ebenbürtig und ihrer würdig. Wenn Ihr sie befreit, sollt Ihr auch belohnt werden. Sie ist nicht verheiratet und nicht versprochen. Ihre Mitgift…« die Sternenkönigin schwieg einen Augenblick, »ist das Reich der Nacht. Seid mutig!
Bringt mir meine Tochter wieder… und Ihr werdet höher steigen, als Ihr Euch das je habt träumen lassen.«
Tamino entdeckte in seinen Händen einen kleinen, harten, flachen Gegenstand, der wie ein Spiegel wirkte, aus dem ihm das liebliche, tränenüberströmte Gesicht eines wunderhübschen jungen Mädchens entgegenblickte.
Es konnte nicht älter als fünfzehn Jahre sein, hatte feine, zarte Züge, und Tamino konnte nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Sternenkönigin oder mit der ehrfurchtgebietenden Göttin entdecken – wenn das keine Illusion gewesen war –
auch nicht mit der dunklen, alternden Frau, die, in ihre Schleier gehüllt, vor ihm stand. Das Mädchen auf dem Bild –
oder sah er es in einer Art magischem Spiegel? – hatte helle Haut; lange blonde Wimpern umrahmten seine großen Augen, und die Brauen waren so blaß, daß man sie beinahe nicht sah. In den veilchenblauen Augen standen Tränen; Trä-
nen rannen über die zarten, weißen Wangen und näßten die langen Wimpern. Es trug ein schlichtes Gewand aus weißer Seide, aber man konnte die Rundungen der kindlichen Brü-
ste erkennen.
»Das Mädchen ist wunderschön«, flüsterte Tamino, »wie heißt es?«
»Pamina«, flüsterte es im Gemach, doch er hörte es kaum.
Seine Augen ruhten wie gebannt auf dem bezaubernden, le-bendigen Gesicht.
Ein Donnerschlag ertönte, ein Blitz zuckte durch den Raum, und Tamino war allein. Seine schweißnassen Hände umklammerten einen Spiegel, aus dem ihm das hübsche Gesicht eines Mädchens geheimnisvoll und wundersam entgegenblickte.
∗ ∗ ∗
Papageno kauerte noch immer wimmernd in der Ecke. Die magische Dunkelheit war gewichen. Tamino bemerkte, daß draußen die Sonne unterging. Nacht und Dunkelheit waren eine Illusion gewesen – das Werk der Sternenkönigin.
Tamino blieb reglos stehen und überlegte, ob er einen seltsamen Traum träumte, doch das Gesicht des Mädchens im Spiegel war wirklich genug, wenn auch auf rätselhafte Weise.
War es auch nur ein Teil dieser Magie? Zuerst war die Königin ehrfurchtgebietend und erschreckend gewesen und hatte dann ihr wahres Selbst, die trauernde Mutter enthüllt.
Tamino dachte an seine Mutter. Bei ihrem Tod war er noch sehr jung gewesen und konnte sich kaum an ihr Gesicht erinnern. Doch glaubte er, sie müßte wie die Königin ausgesehen haben. Er beschloß, dieser Frau zu helfen, selbst wenn die Tochter nicht so schön wäre, und die Königin ihm nicht die Hand und das Erbe ihrer Tochter versprochen hätte.
Tamino blickte in den Zauberspiegel und betrachtete noch einmal das hübsche Gesicht des Mädchens. Jetzt weinte es nicht mehr. Die junge Frau wirkte ängstlich und zornig; ein Schatten schien hinter ihr zu stehen. Sah er den Schatten des bösen Zauberers, ihres Entführers?
Sarastro war sein
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