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Tochter der Nacht

Tochter der Nacht

Titel: Tochter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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gelebt.
    »Aber wie… weshalb schien sie so nahe zu sein?« stammelte sie.
    »Du hast gesehen, was dich beschäftigte und was du gelernt hattest, nicht zu sehen«, erklärte Sarastro ruhig. »Mit dem Dolch in der Hand hättest du von dieser Mauer geradewegs in den Palast deiner Mutter gelangen können, wenn es wirklich dein Wille gewesen wäre. Aber du stehst im Reich der Wahrheit, und deshalb hast du nur die Wahrheit gesehen. Ich will dich nicht fragen, was es war.« Sarastro warf einen flüchtigen Blick über die Wälder, wo Pamina noch kurz zuvor gesehen hatte, wie die Priesterinnen unglückliche Opfer durch die Straßen der Stadt der Sternenkönigin schleppten. Pamina sah den großen Kummer in seinen Augen. Seufzend schob Sarastro den Dolch in sein Gewand.
    »Du mußt mir nichts sagen, mein Kind. Vergiß nicht, ich ha-be sie auch einmal geliebt«, erklärte er. »Ich glaubte, sie sei so gut, wie sie schön ist, und ich konnte es lange nicht ertragen, sie im klaren Licht der Wahrheit zu sehen.« Sarastro seufzte noch einmal tief und wandte den Wäldern – oder der Stadt der Sternenkönigin? – den Rücken zu. Pamina blickte nicht noch einmal über die Mauer.
    »Komm, meine Tochter«, sagte er freundlich, »es ist eine der ersten Lektionen, die man hier lernt: nicht an die Fehler der Vergangenheit zu denken, es sei denn, man hat die Möglichkeit, sie wiedergutzumachen. Und dieser Zeitpunkt, wenn er je kommen wird, ist noch fern. Tamino hat die erste Prü-
    fung mit Erfolg bestanden. Komm und sprich mit ihm, denn wenn eure Leben sich wirklich verbinden sollen, müßt ihr euch den anderen Prüfungen gemeinsam stellen. Und Tamino sehnt sich sehr nach dir.«
    Sarastro legte ihr die Hand auf die Schulter und führte Pamina zu der schmalen Treppe.
     
    Fünfzehntes Kapitel
    »In einem habt Ihr recht«, sagte Sarastro, »die ersten Prüfungen, die Ihr bestanden habt, waren grundsätzlicher Natur.
    Eure Selbstbeherrschung, Euer Mitgefühl und Eure Standhaftigkeit wurden auf die Probe gestellt… nicht zuletzt auch Gehorsam und Bereitschaft, Befehlen zu gehorchen. Doch sie sind ohne größere Bedeutung. Hätte man festgestellt, daß Euch diese Eigenschaften fehlen, wärt Ihr zu den ernsthaften Prüfungen, die nun folgen, gar nicht zugelassen worden.«
    Er sah Tamino feierlich über den Tisch hinweg an, auf dem die Reste einer schlichten Mahlzeit standen. Mit Mühe versuchte der Prinz, seinen Worten zu folgen, denn Pamina saß an der Stirnseite des Tisches… ihre Blicke trafen sich selten, doch die Wangen der Prinzessin überzog eine sanfte Röte.
    Wenn man ihnen wenigstens eine einzige Umarmung gestattet hätte…
    Aber in gewisser Hinsicht schien es richtig, daß man es nicht erlaubte. Als Sohn des Kaisers hatte sich ihm keine Frau je verweigert, wie flüchtig sein Interesse an ihr auch gewesen sein mochte. Mit Pamina war es anders. Tamino verstand nicht warum, aber er wußte, er war bereit – nein, er hatte die feste Absicht –, sein Leben mit ihr zu gestalten. Küsse, Umar-mungen und Liebesschwüre konnten noch eine Weile warten.

Er betrachtete das Grübchen an ihrem Mundwinkel, mußte dabei an das Innere einer Rose denken und stellte fest, daß er es gerne küssen würde… Entschlossen wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Priester-König zu.
    ∗ ∗ ∗
    Pamina fragte: »Und was wird mit Papageno geschehen?«
    Sarastro lächelte: »Ich glaube, es hat sich gezeigt, daß ihm die höheren Stufen der Weisheit nicht bestimmt sind. Doch er hat Charakter und ein gewisses Maß an Entschlossenheit bewiesen. Ich vermute, mit Papagena an der Seite wird er unbe-schadet seinen Weg gehen. Ich hoffe es aufrichtig.«
    »Ich auch«, stimmte ihm Pamina aus vollem Herzen zu, »mir liegt viel an Papagena, und ich habe gelernt, Papageno zu schätzen.«
    »Ich ebenfalls«, erklärte Tamino, »vermutlich brauchte er mehr Mut, sich den Damen der Sternenkönigin zu widersetzen, als ich, um mich des Drachens zu erwehren.«
    »Natürlich, denn die Damen waren die >Drachen<, mit denen sein Geist und seine Gedanken zu kämpfen hatten«, erwiderte Sarastro.
    »Standen sie in der Gruft wirklich vor uns, oder waren sie eine Täuschung, ein Teil der Prüfung?« wollte Tamino wissen.
    Sarastros Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln.
    »Mein Sohn, Ihr seid noch nicht berechtigt, in die Geheim-nisse der Bruderschaft einzudringen«, erklärte er freundlich.
    Die Zurechtweisung war kaum zu spüren, doch unverkenn-bar. Tamino senkte

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