Tochter der Nacht
vernachlässigte die erste Pflicht der Menschen, den Göttern durch reichliche Opfer zu danken, nicht als Halblinge geboren zu sein…
Pamina wußte inzwischen, daß sie nach Sarastros Antwort zum ersten Mal einen eigenen Gedanken gefaßt hatte, anstatt das Wort der Sternenkönigin als Wort der Götter hinzu-nehmen. Was hatte Sarastro gesagt?
Pamina, mein Kind, warum sollten die Götter uns nötig haben, um ihnen die Halblinge zu opfern? Sie sind es, die Menschen und Halblinge geschaffen haben. Wenn die Götter den Halblingen das Leben schenken, können sie es auch beliebig vielen nehmen. Halblinge leben nicht annähernd so lange wie wir. Warum sollten wir ihr Leben noch mehr verkürzen? Wir opfern in diesem Tempel weder Mensch noch Halbling, meine Tochter, sondern ehren die Götter durch Gebete und Lobpreisungen sowie durch das Versprechen, daß wir das Leben, das sie uns geschenkt haben, so tugendhaft führen wollen wie nur möglich.
Damals hatte diese Vorstellung Pamina sehr erschreckt; doch während sie nun die Prozession beobachtete, die sich durch die Straßen zog – aus dieser Höhe wirkten die Priesterinnen, die Klagefrauen und die gefesselten Opfer wie winzige Puppen –, erschien sie ihr merkwürdig.
Auf einem hohen Wagen entdeckte sie eine Gestalt in dunklen Gewändern – vermutlich eine ihrer Halbschwestern.
Aber sie waren auch Halblinge, wie konnten sie Vergnügen daran finden, Geschöpfe wie sie selbst zu opfern, die sich nur in einer weniger glücklichen Lage befanden?
Paminas Kopf schmerzte – von dem gleißenden Licht, von ihren Tränen, vor Verwirrung? Plötzlich erinnerte sie sich zum ersten Mal seit Jahren wieder an die Nacht, in der Rawa verschwunden war.
Die Sternenkönigin hatte ihr damals das Versprechen gegeben, Rawa nicht als Rattenfängerin in die Ställe zu schicken, und Pamina war der Meinung gewesen, sie habe der Hunde-Frau eine andere Aufgabe außerhalb des Palastes zugewiesen. Pamina hatte nicht daran gezweifelt, daß ihre Mutter ein gegebenes Versprechen hielt, und deshalb unterlassen, Nachforschungen anzustellen. Jetzt aber wurde ihr klar, daß sie die Wahrheit immer geahnt haben mußte: Man hatte Ra-wa an Papagenas Stelle geopfert!
Wie hatte sie so blind sein können, das Naheliegende nicht zu sehen? Aber sie war immer blind gewesen, das dumme Kind, für das Disa sie hielt. Nach sieben Jahren nützte es wenig, Tränen um Rawa zu vergießen; sie hatte nicht einmal gewußt, daß damals die Wahl zwischen Rawa und Papagena bestand. Papagena war ihr lieb und teuer, aber Rawa… war ihr eine Mutter gewesen, sie hatte nie eine andere Mutter gehabt. Die Sternenkönigin war ihr nie eine wirkliche Mutter gewesen, wenn man davon absah, daß sie Pamina geboren hatte. Weshalb empfand sie aber diesen schmerzlichen Verlust, wenn sie sich daran erinnerte, wie ihre Mutter sie flüchtig in die Arme geschlossen hatte?
Die Prozession entschwand ihren Blicken, aber Pamina folgte ihr in Gedanken durch die großen Tempeltore bis zum Opferaltar. Das Blut, das um die Mittagszeit floß – man hatte sie gelehrt, daß es die Sonne nährte, ihr ermöglichte, auch weiterhin zu scheinen – welche Torheit, welch ein albernes Märchen! Und dennoch hatte sie nie daran gezweifelt. Hätten die zahllosen Priesterinnen ihre Pflicht einmal nicht erfüllt, Pamina hätte bereitwillig das Messer ergriffen, um das Opfer in der vorbestimmten Weise zu vollziehen.
In Sarastros Palast hatte sie Bilder von der Sonne und den Welten gesehen, die um sie kreisten, und der Priester-König hatte ihr erklärt, die Sonne sei ein riesiger Feuerball am Himmel und würde weiterbrennen, unabhängig von dem, was die Menschen und Halblinge taten oder nicht taten. Die wahren Götter, so sagte er, seien die Mächte der Ordnung, die sicherstellten, daß Sonne, Mond und Sterne an ihren vorbestimmten Plätzen leuchteten… Wie unwissend sie doch noch immer war!
Ihr Platz war also nicht mehr im Palast der Sternenkönigin, doch auch nicht mehr in Sarastros Tempel, nachdem Tamino sie zurückgewiesen hatte. Was für ein Leben konnte es noch für sie geben? Und wohin sollte sie sich wenden?
Pamina stand auf der Plattform und schaute über die Stadt.
Warum, überlegte sie, haben Sarastros Priester diesen Aussichtspunkt geschaffen, der ihnen den Blick in eine Stadt er-möglicht, deren Sitten und Gebräuche sie verabscheuen?
Aber wieso konnten sie hier leben und diese schrecklichen Dinge mit ansehen, ohne dagegen einzuschreiten? Die
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