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Tochter der Nacht

Tochter der Nacht

Titel: Tochter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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auch die einfacheren Völker sollten entsprechend ihren Fähigkeiten erzogen und zur Weisheit ge-führt werden. Aber leider sehen die beiden das anders, deine Mutter und der, den man die Große Schlange nennt. In ihren Augen sind die Halblinge von den Gestaltern geschaffen worden, um als Sklaven zu leben. Davon lassen sie sich nicht abbringen.«
    »Aber er ist selbst ein Halbling!« rief Pamina. Sarastro seufzte und zitierte leise: »Am Anfang war die Schlange, und man sagt, daß ihre Hände den Gestaltern bei der Erschaffung der Menschen halfen. Für die Große Schlange, Pamina, gibt es zwei Arten von Menschen: wir und das Schlangen-Volk. Alles andere sind niedere Tiere und nur zu dem Zweck erschaffen, den wahren Menschen zu dienen. Sie halten jeden Versuch, das Wohlergehen der Halblinge zu fördern, für Rührseligkeit, für Heuchelei. Sie können sich nicht vorstellen, daß ich daraus nicht irgendeinen Nutzen ziehen will.
    Aber genug davon«, fügte Sarastro entschlossen hinzu, »du wirst alle diese Dinge lernen, wenn die Zeit gekommen ist.
    Jetzt sollten wir von den Prüfungen sprechen, die euch erwarten. Die Prüfung der Erde liegt hinter euch, die Probe der Vernunft, die man so in Worte fassen könnte: Ich beherrsche das Tier in mir. Es begleitet mich durch mein Leben, doch ich bin der Herr und nicht sein Sklave.«
    »Ist es erlaubt, sich nach der Art der Prüfungen zu erkundigen?« fragte Tamino.
    »Ich kann nur sagen, ihr müßt zeigen, daß ihr die Elemente Luft, Wasser und Feuer meistert«, antwortete Sarastro. »Man hat Euch mit der Flöte eine mächtige Zauberwaffe anvertraut, Prinz Tamino. Mehr darf ich nicht sagen.« Der Priesterkönig schob den kleinen Tisch beiseite und erhob sich.
    »Man wird euch bei Mondaufgang zum Ort der Prüfung bringen. Da ihr euch fürs Leben binden wollt, hat man beschlossen, daß ihr euch den Prüfungen gemeinsam unterziehen dürft. Jeder von euch besitzt Stärken, die vielleicht die Schwächen des anderen ausgleichen.« Sarastro ergriff Taminos Hand und drückte sie fest. Dann beugte er sich zu Pamina hinab und gab ihr einen flüchtigen Kuß auf die Wange.
    »Habt Mut, meine Kinder. Meine Gebete werden euch begleiten. Ich wünschte, es wäre mir erlaubt, euch größere Hilfe zu geben.«
    Sarastro wollte sie verlassen, drehte sich plötzlich um und kam zurück. In seinen Worten lag fast sichtbare Erregung, als er sagte: »Pamina, sei vorsichtig! Deine Mutter wird vielleicht vor nichts zurückschrecken, um deinen Sieg zu verhindern.
    Ich bitte dich, unterschätze sie nicht oder werde aus Mitleid sorglos. Deine Mutter war die erste und bisher einzige Frau, die sich den höheren Prüfungen unterziehen durfte. Ich…«, einen Augenblick lang konnte Pamina nicht hören, was Sarastro sagte, obwohl seine Lippen sich bewegten.
    Schließlich verstand sie ihn.
    »Ich habe einen gefährlichen Fehler begangen, der beinahe großes Unheil angerichtet hätte. Ich unterschätzte ihren Stolz auf diese Leistung. Vielleicht wird sie…«, er brach ab,
    »das sollte ich nicht sagen. Vergib mir. Ihre Person ist mir heilig. Doch wenn sie versucht, dir zu schaden…«
    Pamina öffnete den Mund, um zu widersprechen, ließ es aber sein. Sie spürte, welcher Kampf in Sarastro tobte. Und einen Augenblick lang wußte sie nicht, wen von ihren Eltern sie am meisten bemitleidete.
    Tamino erinnerte sich an Papagenos Frage: Was nutzt es, ein Prinz zu sein, wenn man wie jeder andere Befehlen gehorchen muß? Sarastro war ein Priesterkönig, der Meister dieser Bruderschaft, die der Weisheit diente. Trotz allem und trotz seiner heldenhaften Bemühungen, es zu verbergen, wurde er wie jeder andere Sterbliche von widersprüchlichen Gefühlen und Verpflichtungen gequält. Wie Papageno wollte er nach dem Sinn fragen, der hinter allem lag, wenn die Weisheit, die man in den Prüfungen erlangte, den Eingeweihten nicht klü-
    ger machte als zuvor, wenn es um die eigenen Gefühle ging.
    ∗ ∗ ∗
    Er hatte hier schon viel gelernt. Aber vielleicht war er, verglichen mit dem Mann, der vor ihm stand, nicht gescheiter als Papageno. Tamino senkte den Kopf, um die Qual in Sarastros Augen nicht länger sehen zu müssen. Als er wieder aufblickte, war der Priesterkönig gegangen, und sein Geleiter, der alte Priester, stand vor ihm.
    »Prinz Tamino«, fragte der Priester förmlich, »seid Ihr bereit, die Prüfungen fortzusetzen?«
    »Ich bin bereit.«
    »Prinzessin Pamina«, fragte der Führer förmlich, »man hat mich

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