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Tochter der Nacht

Tochter der Nacht

Titel: Tochter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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angewiesen, Euch zu sagen, daß Ihr nicht verpflichtet seid, die Prüfungen zu beenden. Ihr seid von den Wegen der Erde frei, und von Frauen wird in diesem Tempel nicht mehr verlangt. Ihr könnt in Ehren verzichten, und man wird Euch Priesterin und Prinzessin nennen. Aber es ist der letzte Punkt, an dem ihr umkehren könnt. Wenn Ihr einen Schritt weitergeht, seid Ihr verpflichtet, Euch allen anderen Prüfungen zu unterziehen. Und man wird Euch erst entlassen, wenn Ihr sie bestanden oder dabei den Tod gefunden habt.«
    Pamina blickte zu Tamino auf, und er sah, wie sie schluckte.
    Ihre Kehle bewegte sich kaum merklich unter dem weißen Leinen. Dann erwiderte sie förmlich: »Wohin mein Herr und künftiger Gemahl geht, Priester, da will auch ich hingehen, selbst wenn mich dieser Weg in den Tod führt.«
    »So sei es. Niemand darf Euch dieses Recht verwehren, edle Pamina«, erwiderte der Priester. »Tamino, erlaubt Ihr, daß Pamina auf diesem Weg an Eurer Seite geht?«
    Er hielt Paminas kleine Hand und spürte, wie ihre Finger leicht zitterten. Tamino erinnerte sich, wie lächerlich ihm die Prüfungen bisher vorgekommen waren, und überlegte, ob dies einfach eine weitere Probe der Bereitschaft, des Gehorsams und des Muts sei – angebliche Hindernisse, die verschwanden, wenn er sich ihnen mutig stellte. Doch in Sarastros Gesicht hatte eindeutig Furcht gelegen, und das sagte ihm, daß alles Bisherige nicht mehr als ein Vorspiel zu den wahren Prüfungen war. Er wollte Pamina bitten, in Sicherheit hier zurückzubleiben, während er die Gefahren allein auf sich nahm. Von Frauen verlangte man sicher nicht, daß sie Weisheit unter Todesgefahr erwarben. Wozu brauchten sie überhaupt Weisheit? Ja, die Sternenkönigin hatte sich diesen Prüfungen unterzogen. Doch war sie dadurch ein besserer Mensch geworden? Scheinbar hatte nur ihr Stolz davon profitiert.
    Pamina war die Tochter der Sternenkönigin. Wäre es nicht besser, ihr Stolz würde nie erwachen, nie herausgefordert?
    »Pamina…«, begann Tamino und verstummte. Vertraute er ihr oder nicht? Liebte er sie oder fürchtete er ihr Wesen, das sich unter der Oberfläche verbarg? Fürchtete er sie, weil sie die Tochter der Sternenkönigin war?
    Tamino sprach und spürte, wie sein Atem unregelmäßig ging, als sei er zu schnell gelaufen: »Das muß Pamina selbst entscheiden. Sie ist meine künftige Gemahlin, nicht meine Sklavin. Ich habe kein Recht, ihr meinen Willen aufzuzwin-gen. Welche Wahl sie auch trifft, ich billige sie. Wenn sie sich dafür entscheidet, an diesem Punkt umzukehren, werde ich ihr nie einen Vorwurf daraus machen, das schwöre ich.«
    Er fühlte, wie sich ihre Finger in seiner Hand spannten. Pamina erklärte entschlossen: »Ich habe meine Wahl getroffen.«
    »So sei es«, sagte der Priester. »Reicht euch die Hände, Tamino und Pamina«, und lächelte, als wisse er genau, daß sie sich bereits an den Händen hielten.
    »Ich entlasse euch also in die Prüfung. Ihr müßt das Element Luft meistern. Mögen die hohen Wächter der Winde euch schützen.«
    Der Priester klatschte in die Hände. Ein Donnerschlag ertön-te, der Palast war verschwunden. Tamino hielt Pamina immer noch an der Hand, doch ein Sturm zerrte an seinem Gewand, zerzauste seine Haare. Eiskalte Luft umtobte sie wie ein Wirbelsturm. Unwillkürlich griff er angsterfüllt nach Pamina, denn er war sicher, der Wind würde sie ihm entreißen.
    »Pamina, halte dich an mir fest!« rief er. Doch der Wind verschluckte seine Stimme. Durch die peitschenden Böen hindurch spürte Tamino, wie ihre Arme sich eng um ihn schlan-gen, während sie beide heftig hin-und hergerissen, gestoßen und gezerrt wurden. Schwere schwarze Sturmwolken nahmen ihnen die Sicht, und ein dunkler Nebel umgab sie.
    Für einen kurzen Augenblick rissen die dahinjagenden Wolken auf. Sie sahen, daß sie hoch in den Bergen über einer Schlucht auf einem Felsabsatz standen, wo der Sturm sie um-toste. Sie versuchten, sich gegen die steile Felswand zu pres-sen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Eine Böe riß Pamina den Umhang vom Leib und wirbelte ihn davon. Er flatterte wie ein riesiger weißer Vogel, schlug wie mit Flügeln und flog über den sturmgepeitschten Himmel, ehe er in den Abgrund stieß. Pamina drückte sich zitternd an Tamino. Jeder neue Windstoß schien sie beide vom Vorsprung fegen und in den Abgrund schleudern zu wollen, hinunter in die schroffe Schlucht tief unten.
    »Wo sind wir?« schrie Pamina Tamino ins Ohr, der sie

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