Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
gemütlich und lauschte mit halbem Ohr auf das, was in seiner Welt vor sich ging. Dort blieb alles ruhig. Zwei Jäger waren unterwegs, aber das ging ihn nichts an. Zufrieden sank er ein wenig tiefer in den Stamm eines Baumes, wo er sich vor Gabriella verbarg, und gab sich ihrer Betrachtung hin.
Was war nur so anders an ihr? Was? Sie sah eigentlich ganz normal aus. Vielleicht war ihr Duft stärker als bei anderen Menschen, aber es musste auch sonst einen Unterschied geben. Um das herauszufinden, würde er sie wohl längere Zeit verfolgen müssen. Der Gedanke löste ein neues, fremdes, nicht unangenehmes Kribbeln in ihm aus, und eine winzige Hoffnung, Gabriella könnte ihn sehen und er mit ihr sprechen, keimte auf.
Sechstes Kapitel
Als Markus sich Strabos Palast näherte, merkte er, wie sich seine Schritte verlangsamten. Sobald er durch das Tor trat, gab es kein Zurück mehr. Für keinen von ihnen.
Er fühlte die Blicke der anderen in seinem Rücken. Entschlossen straffte er die Schultern und ging weiter, immer direkt auf die graue Mauer zu. Von der Ferne sah sie aus wie Stein, und erst wenn man näher kam, bemerkte man das zarte Flimmern. Seit die Alten in den dunklen Tagen des Krieges alle Wege bis auf das Tor in Strabos Palast vernichtet hatten, umgab die magische Barriere Amisaya wie ein Gefängnis. Früher war es jedem von ihnen freigestanden, über die Erde zu reisen. Bis einige von ihnen auf die Idee gekommen waren, sich nicht friedlich mit den dort wachsenden Völkern zu vermischen, sondern sie zu erobern.
Viele hatten inzwischen versucht, die magische Grenze zu durchbrechen, und waren daran gescheitert. Vermutlich mehr, als Malina und die anderen auch nur ahnten, und die wenigsten hatten den Übergang geschafft. Er hatte sich während seiner Zeit als Jäger oft gefragt, weshalb sich die Flüchtigen den Schmerzen aussetzten. Inzwischen wusste er es: Es gab Menschen, die glaubten an eine Hölle – und Amisaya war wie eine Hölle.
Manche brüllten. Die meisten schwiegen, bissen sich die Lippen blutig, nur um mit den Schreien nicht die Wächter auf sich aufmerksam zu machen. Manche schmolzen schon in der Barriere zu einer formlosen Masse, andere schafften es hindurch, nur um als blutige Klumpen die ersehnte Freiheit zu erlangen. Die Jäger wurden gerufen, um sie fortzuschaffen, zurück nach Amisaya, wo sie in den Nebeln verschwanden. Er hatte diese Aufgabe noch mehr gehasst als sein restliches Dasein.
Strabo dagegen hatte offenbar recht ausgiebig Gebrauch von dem einzigen Tor gemacht, das aus den früheren Zeiten noch erhalten war. Hass kochte in Markus hoch, und er atmete tief durch. Spätestens wenn er durch das Tor trat, musste er seine Gefühle in den Griff bekommen haben, sonst würde er die Jäger auf seine Fährte ziehen.
Nur einen Schritt von der schimmernden Mauer entfernt, bog er scharf nach rechts. Die eingeschlagene Richtung brachte ihn näher an Strabos langsam verfallende Residenz. Zwischen deren Mauern und der Barriere gab es einen schmalen Weg, gerade breit genug für einen kräftigen Mann, um sich seitlich, an die Schlossmauer gepresst, durchzuschieben. Markus atmete tief aus, hielt die Luft an und zog Bauch und Brustkorb ein. Wenn er auch nur an der Barriere streifte, wäre sofort ein ganzes Rudel Wächter alarmiert, ganz abgesehen davon, dass sie ihm das Gewand vom Körper sengen würde. Er schob sich langsam weiter, Schritt für Schritt, blieb nur stehen, um kurz durchzuatmen. Dort war das verborgene Tor, durch das der Wächter ihn in den Palast lassen sollte. Er erreichte es und presste sich dagegen, atmete tief und erleichtert durch. Dann tastete er nach dem Türknauf. Die Tür sprang auf, und er glitt hindurch.
Ein Wächter in der ledernen Rüstung eines Kriegers verstellte ihm den Weg. Markus fühlte sein Herz heftiger schlagen als zuvor. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Schweiß brach aus, aber er vermied es, sich über die Stirn zu wischen, das hätte gezeigt, wie nervös er war.
Für lange Minuten starrte der Mann ihn an, die Waffe erhoben. Markus sah wie gebannt auf den Bogen der Alten, der nie sein Ziel verfehlte, tödlich wie die magischen Schwerter und Dolche. Früher hatte er diese Waffen getragen, zusammen mit der Rüstung eines Heerführers, in die das Wappen seiner Familie eingebrannt gewesen war. Aber jetzt zielte der Pfeil auf ihn. Wenn die anderen sich getäuscht hatten? Wenn dies der falsche Mann war? Eine Falle?
Sein Blick zuckte durch den Raum. Dort war das
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