Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
Salatblätter verteilt. Eine ältere Frau und ihre Promenadenmischung schlichen sich an der Hausmauer entlang, als Gabriella aus dem Haustor trat und zwischen den leeren Marktständen hindurchging.
Sie hatte diesen Bezirk immer gemocht. Wochentags war er bunt, voller Leben, ein Konglomerat vieler Kulturen und Menschen. Wenn man langsam und bewusst durchging, hörte man von Deutsch über Türkisch, Arabisch, Polnisch, Serbisch, Italienisch, Rumänisch noch viele weitere Sprachen, die Gabriella meist gar nicht zuordnen konnte. Die Marktstraße zog sich viele Häuserblöcke entlang und mündete in einen großen Marktplatz mit Restaurants, zu denen auch das von Antonio gehörte, in dem Gabriella arbeitete. In der warmen Jahreszeit war an den Tischen vor den Restaurants jeder Platz belegt, aber jetzt war dort alles leer, und nur wenn die Sonne schien, saßen die ganz Widerstandsfähigen und Sonnenhungrigen noch draußen.
Es ließ sich nicht verleugnen, dass der offizielle Herbstbeginn schon lange zurücklag. Wie zur Bestätigung traf sie ein kalter Windstoß, zerrte an ihrem Haar und wirbelte Blätter und Papierabfälle hoch. Sie sah zum Himmel hinauf, zog sich die Kapuze ihrer Wetterjacke über den Kopf und auf machte sich auf den Weg zur U-Bahn.
Es war allerdings nicht nur der Wind, der sie plötzlich schaudern ließ, als würde sie von einer kühlen Hand berührt. Sie blieb stehen und sah sich um.
Und da war er auch schon. Wie das Amen im Gebet. Gabriellas gute Laune sank bis zu dem Kanalgitter unter ihren Füßen.
Ihr Interesse an den Jägern , wie ihr Vater sie nannte, war seit dessen Besuch noch weitaus lebhafter als je zuvor, auch wenn sie schon in ihrer Kindheit gelernt hatte, die grauen Männer, diese Schatten, zu übersehen, als wären sie tatsächlich nicht vorhanden: Sie ließ ihre Blicke so gleichmütig über sie schweifen wie über Häuserwände, parkende Autos oder das Straßenpflas-ter. Sie tauchten gelegentlich auf, strebten in die eine oder andere Richtung, manchmal schien es, als verharrten sie, wie Bluthunde, die eine Witterung aufnahmen, und dann gingen sie davon, ohne irgendetwas in ihrer Umgebung auch nur näher zu beachten. Bisher hatte Gabriella keinen dieser Männer ein zweites Mal zu Gesicht bekommen.
Mit einer Ausnahme. Und die machte ihr langsam Sorgen.
Dieser Graue, der dort, die Hände in den Hosentaschen auf der anderen Straßenseite dahinschlenderte, war ihr in der letzten Zeit ziemlich oft aufgefallen. Einmal lehnte er an einer Hauswand, wenn sie am Morgen das Haus verließ und in die Arbeit ging, wobei er oft ein bisschen einsank, als wüsste er nicht, wo die Luft aufhörte und die Mauer begann. Ein anderes Mal stand er mitten auf dem Gehsteig herum, ungeachtet der Leute, die sich um ihn drängten und eine seltsame Scheu hatten, dieselbe Stelle zu betreten, die er einnahm. Und dann wieder hatte sie ihn beim Heimkommen auf dem Markt herumlungern sehen. Er sah nie in Gabriellas Richtung, und selbst wenn, glitt sein Blick stets gleichgültig und desinteressiert durch sie hindurch.
Und trotzdem war es unheimlich, ihn so oft zu entdecken. Als er ihr dann schon das vierte oder fünfte Mal über den Weg lief, begann Gabriella ihn zu beobachten. Ein komischer Kauz – falls man einen dieser Grauen überhaupt so nennen konnte. Die anderen streiften mit einem gleichgültigen Blick umher, mit Augen, in denen nicht das kleinste Fünkchen Leben zu finden war. Nicht er. Oft schien es Gabriella, als würde er die Leute um sich herum beobachten, und so etwas wie Interesse, ja sogar Neugier brachte Leben in seine Augen und sein Gesicht.
Jetzt schlenderte er parallel zu ihr die Marktstraße entlang. Sie schielte aus den Augenwinkeln zu ihm hinüber. Männer wie er jagten also Entflohene. Leider war ihr Vater sozusagen ebenfalls entflohen , ehe sie ihn hatte ausfragen können. Wusste dieser dort vielleicht von ihrem Vater? Spionierte er ihr deshalb hinterher? Oder gar ihrem Vater? War dieser auch auf der Flucht?
Sie beschleunigte ihre Schritte. Vielleicht konnte sie ihn bei der U-Bahn abhängen. Die Fußgängerampel sprang soeben auf Grün, und Gabriella sauste hinüber. Im Eingang zur U-Bahn-Station hielt sie kurz inne, um rasch über die Schulter zu spähen. Da war er! Überquerte soeben seelenruhig die mehrspurige Straße, als würden nicht zig Autos herangebraust kommen!
Sie hastete die Treppe hoch. Eine U-Bahn fuhr gerade ein, Gabrielle sprang atemlos durch die sich öffnenden Türen und
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