Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
Tor, zwei Säulen, ein Torbogen inmitten der Halle. Wie ein Triumphbogen in der Welt jenseits der Barriere. Nur wenige Schritte zur Freiheit. Er konnte den Wächter niederstoßen und dann …
»Markus?«
Er nickte kurz. Sein Mund war trocken. Er war nicht mehr wie früher. Das Leben in der Welt drüben hatte ihn verändert. Und die Rückkehr hatte ein Übriges getan.
Die farblosen Augen des Wächters bohrten sich in seine. »Du weißt die Bedingungen?«
»Ja.« Den Ahnen sei Dank, seine Stimme gehorchte ihm, klang weder heiser noch belegt.
»Strabos Tochter muss sterben. Wie mein Vater gestorben ist, weil er die Freiheit wollte.« Die Stimme des Wächters war hasserfüllt. »Du wirst nicht versagen? Deinen Schwur halten?«
»Wie ich ihn immer gehalten habe«, erwiderte Markus kalt. »Daran wird sich nichts ändern.«
Der andere kam mit dem Gesicht dicht an seines, er spürte seinen säuerlichen Atem. »Ich zahle mit meinem Leben dafür, dass du hier durchgehst und mich und meinen Vater rächst. Wenn du versagst, sterbe ich für nichts.« Als er sah, wie ein Zucken über Markus’ Gesicht ging, verzog er höhnisch den Mund. »Früher wurden die Wächter abgezogen und in Gegenden verbannt, die noch grauenvoller sind als dieses tote Land, aber inzwischen geht Strabo kein Risiko mehr ein. Wächter, die einen Fehler begehen, landen entweder in den Höhlen oder werden von den Nebeln eliminiert.« Markus nickte; im Grunde war es ihm gleichgültig. Der Mann war nicht der einzige Tote, nur einer von vielen.
»Hier.« Der Wächter hielt ihm etwas hin. Eine Börse. Markus hatte dergleichen schon bei den Menschen gesehen. Er öffnete sie.
»Hier ist genügend Geld, damit du drüben überleben kannst, bis die Sache erledigt ist. Und auch ein Ausweis , so etwas braucht man dort angeblich. Und hier …« der Wächter zog ein gefaltetes Stück Papier hervor, »die Adresse der verfluchten Tochter. Verlier sie nicht!«
»Nein.« Der Flüchtige war dafür gestorben, an diese Adresse zu kommen. Wie groß musste der Hass sein, dass er trotz der Angst im Angesicht der Nebelwesen noch die Kraft dazu gehabt hatte, das Stück Papier Malina zu übergeben, als sie sich über ihn gebeugt hatte. Markus wog die Börse in der Hand.
»Und nimm dich in Acht, man erzählt sich, sie werde von Ramesses bewacht.«
Markus hob langsam den Blick. Das hatten die anderen ihm verschwiegen. Verdammt sollten sie sein. Seine Augen wurden hart, und der Wächter wich einen Schritt zurück. Unsicherheit flackerte in seinem Blick auf, als er mit dem Kopf zum Tor deutete. »Dann geh jetzt. Es führt dich ans Ziel.«
Ein schimmerndes Licht erschien zwischen den Pfeilern, und dahinter wartete die Schwärze des Tores. Ein Windstoß kehrte buntes Laub in den Palast und brachte den Geruch von nasser Erde und Pflanzen mit sich. Gleich würde er es betreten. Das nervöse Gefühl in seinem Magen wurde stärker, es war, als würde eine Art Gier ihn zum Tor und hindurchziehen. Die Gier auf Freiheit, auf Leben.
Er setzte sich soeben in Bewegung, als hinter ihm Rufe erklangen. Er rannte los und gelangte in den Tunnel, ehe er sich schloss. Hinter sich hörte er die Flüche des Wächters, Schreie, Kampflärm. Er wandte sich nicht um, lief weiter und erkannte, dass das innere Tor bereits geschlossen war, der schwarze Tunnel endete in der schimmernden Barriere. Und dennoch führte ihn genau dieser Weg immer noch an sein Ziel.
Markus wusste, was ihn erwartete, wenn er jetzt die magische Wand durchbrach. Er zögerte keinen Moment, sondern stemmte sich kraftvoll ab und schnellte vor. Im nächsten Moment erfasste ihn die Barriere. Sein Sprung brachte ihn ein Stück weit hinein. Er drängte weiter, stemmte sich gegen den Widerstand. Rasch hindurch, das geringste Zögern war tödlich. Sein Körper brannte, loderte. Er schrie lautlos auf. Und dann, mit einem Mal, war er hindurch. Er taumelte noch ein Stück weiter, fiel auf die Knie und drehte den Kopf. Hinter ihm war nichts. Die Barriere war verschwunden. Er lag inmitten von Bäumen, entlaubten Sträuchern, sterbenden Grünpflanzen. Und alles war erfüllt vom Hauch des Lebens.
Und dann packte ihn ein unvorstellbarer Schmerz.
Siebtes Kapitel
Die Straßen waren still an diesem Morgen. Der Markt stand leer und verlassen im Nieselregen, nasses Zeitungspapier lag zusammengeknüllt am Boden zwischen den Marktbuden, daneben waren Einkaufsmarken, Taschentücher, gebrauchte Fahrscheine, Zigarettenstummel und welkende
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