Tochter der Träume / Roman
auf die menschliche Welt übergreifen. Nicht auszudenken, was passierte, wenn jemand, der den Menschen weniger wohlgesinnt war als mein Vater, das Zepter in die Hand nahm.
Und dass ich dafür sterben müsste … nein, daran wollte ich erst gar nicht denken.
Ich nickte kurz. »Wir müssen Karatos zur Strecke bringen, schnell und brutal, wenn nötig.«
Mein Vater wirkte überrascht und seltsam stolz. »Ja. Und ich habe keinen Zweifel, dass ihm das Menschsein versprochen wurde, wenn er dich dafür in die Finger kriegt. Er dürfte auf der Erde weiter sein Unwesen treiben.«
Wofür er Noah brauchen würde. »Also, was tun wir?«
»Es ist nicht ungefährlich für deinen Freund, wenn er zu lange nicht träumt. Sollte Karatos sich nicht bald zeigen, dann müssen wir ihn wohl herauslocken.«
»Ihn herauslocken?« Jetzt verstand ich. »Mit Noah als Köder?«
»Ja.«
»Nein.«
»Entweder das, oder er stirbt.«
Und sollte er sterben, dann wäre ich zum Teil schuld daran. »Nicht, wenn wir mich als Köder benutzen.« Seit wann spielte ich freiwillig die Heldin? Seit ich begonnen hatte, mich in Noah zu verlieben. Ein Mensch konnte ohne Träume nicht leben, Noah würde nur eine begrenzte Zeit durchhalten. Träume regenerierten die Seele, waren wie ein Ölwechsel für die Psyche. Man träumte, um den Müll loszuwerden und an den schönen Dingen festzuhalten.
Meine Mutter sah entsetzt aus, mein Vater ebenfalls, doch wirkte er auch stolz, was mich zugegebenermaßen freute.
»Na gut.« Dass er wenigstens ein bisschen mehr Aufhebens machen würde, hätte ich allerdings schon erwartet.
Meine Mutter packte ihn am Handgelenk. »Nein. Ich werde nicht zulassen, dass Dawn in noch größere Gefahr gebracht wird.«
Bei aller Wut und Verbitterung meinerseits und trotz der riesengroßen Fehler, die sie in meinen Augen begangen hatte – in diesem Augenblick spürte ich, dass meine Mutter mich liebte. Ein Jammer, dass ich erst dem Tod ins Auge blicken musste, um mich dieser Erkenntnis zu öffnen.
»Wir bringen sie nicht in noch größere Gefahr«, konterte Morpheus. »Wir versuchen, sie außer Gefahr zu bringen.« Er leerte seine Tasse und stellte sie auf den Tisch. »Ich muss wieder zum Suchtrupp zurück.«
»Warte.« Meine Stimme hielt ihn auf, als er gerade gehen wollte. »Was kann ich tun?«
Er drehte sich um und kam auf mich zu, lächelte väterlich. »Bleib in Sicherheit und lass dich von deinem Gefühl leiten.«
Damit beugte er sich zu mir und küsste mich auf die Wange. Und nachdem er auch meine Mutter geküsst hatte, die offensichtlich alles andere als begeistert von seiner Entscheidung war, verschwand er auf die gleiche Art, wie er zuvor erschienen war.
»Das ist doch ganz gut gelaufen«, sagte ich, noch leicht benommen. Besser, ich akzeptierte die Umstände, und zwar schnell, oder dieser ständige Zustand der Verwirrung würde mich am Ende umbringen.
Ich nahm noch ein Sandwich. Ich konnte es nicht fassen, dass ich die gleiche Art von Kräften besaß wie mein Vater – oder von denen mein Verstand zu glauben schien, dass ich sie besaß. Dabei hatte ich vor drei Wochen noch keinen blassen Schimmer gehabt, wie man ein Portal öffnete oder davon, dass meine Augen die Farbe wechseln können.
Die Augen meiner Mutter wirkten in ihrem blassen Gesicht viel zu groß. »Versprich mir, dass du vorsichtig bist.« Sie sprach mit erstickter Stimme – fast wie ein Schluchzen.
Ja, versprechen konnte ich es, auch wenn es vielleicht nicht der Wahrheit entsprach. Ich würde ihr ein wenig Hoffnung geben, weil ich kein Miststück war und ich es auch nicht übers Herz brachte, ihr in diesem Augenblick absichtlich weh zu tun. »Ich verspreche es dir.«
Es war Zeit zu gehen, bevor sie noch auf die Idee kam, mich zu umarmen. Ich musste mich ermahnen, sie nicht zu nah an mich heranzulassen. Sie mochte noch so nett und besorgt erscheinen, das änderte nichts daran, dass sie mich und den Rest unserer Familie im Stich gelassen hatte. Und eine Frau, die so etwas einmal getan hatte, würde es immer wieder tun.
Ich verabschiedete mich, öffnete ein Portal und schlüpfte fast im selben Moment hindurch. Entweder wurde ich mit jedem Mal besser darin, oder ich hatte Glück gehabt.
Ich trank noch einen Schluck Wasser aus der Flasche, die ich zuvor geöffnet hatte, und ließ den Rest auf dem Tisch stehen. Dann schlich ich auf Zehenspitzen hinauf in Noahs Schlafzimmer, wo ich in sein weiches, warmes Bett kroch. Er hörte auf zu schnarchen und
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