Tochter der Träume / Roman
Ich griff nach meiner Diät-Cola. »Echt. Wie hältst du es nur aus, ihn tagtäglich sehen zu müssen?«
Sie schluckte einen Bissen hinunter. »So schlimm ist es gar nicht mehr. Manchmal vergesse ich es sogar. Nur hin und wieder lässt er eine Bemerkung fallen, die als Anspielung oder Witz zwischen uns gedacht ist.«
Ich schwenkte meine Coladose in ihre Richtung. »Wenn ich meine eigene Praxis habe, will ich, dass du für mich arbeitest.«
Sie grinste. »Ich nehme dich beim Wort.«
Dann spendierte ich ihr noch einen Tee, und wir gingen mit unseren Styroporbechern in den Händen zurück zur Klinik. Über Dr.Canning verloren wir kein Wort mehr, aber ich musste trotzdem an ihn denken und fand, dass man ihm eine Lektion erteilen sollte.
Jackey Jenkins fiel mir wieder ein. Ja, Dr.Canning hatte eine Lektion verdient, wenn auch nicht durch mich.
Als ich an jenem Abend bei Noah ankam – es wurde allmählich zu einer Gewohnheit –, traf ich ihn unten im Dojo an, wo er und Warren sich einen heftigen Kampf lieferten. Zumindest sah es so aus.
Beide waren schweißüberströmt und trugen diese weißen Pyjamahosen, die man häufig im Kampfsport sah. Ihre Haare klebten ihnen am Kopf, und sie holten keuchend Atem, grunzten dabei, während sie einander umkreisten, mit Händen und Füßen angriffen, mal trafen, mal abgewehrt wurden.
Ich zuckte zusammen, als Warren Noah mit der Faust in den Bauch stieß, und fuhr noch heftiger zusammen, als Noah Warren von den Füßen riss und ihn dann auf die Matte schleuderte. Mit dem Aikido, das die beiden mir beigebracht hatten, hatte das hier nichts zu tun. Wie machten sie das, ohne einander ernstlich zu verletzen? Jahrelange Übung, nahm ich an.
Kaum hatten sie mich bemerkt, unterbrachen sie den Kampf.
»Störe ich hier gerade eine Bruderfehde, oder prügelt ihr immer so aufeinander ein?«
Sie lächelten beide, keuchten schwer und schwitzten. »Freundschaftskampf«, sagte Warren.
Und Noah lachte. »Als wir jünger waren, war das die einzige Möglichkeit, uns die Köpfe einzuhauen, ohne dass sich unsere Eltern aufregten.«
»Ja, wir haben alles auf der Matte ausgetragen.« Warren ließ sein Handtuch gegen Noahs Bein schnalzen. »Ich mach dich noch immer alle.«
Noah blickte ihn düster an, doch es lag keine Wut in seinem Blick. »Ja, sicher.«
Ich beobachtete die beiden, wie sie trotz des Kampfs, den sie gerade ausgetragen hatten, entspannt und locker miteinander umgingen. Zwischen meinen Schwestern und mir wäre das nicht möglich gewesen. Allein die Vorstellung, dass Ivy und ich uns wegen Mom die Nasen einschlugen, war absolut lächerlich. Aber vielleicht würden wir öfter miteinander reden, wenn wir die Chance hätten, die Spannung zwischen uns abzubauen.
Doch so weit würde es nie kommen. Wozu überhaupt darüber nachdenken? Was machte es schon, dass Ivy mich für eine Rabentochter hielt? Ich wusste eben, dass Mom kein tragisches Schicksal ereilt hatte, wusste, dass sie uns nicht »genommen« worden war. Anstatt mich mit Ivy zu streiten, sollte ich eher Mitleid mit meiner Schwester haben und mich wohl oder übel mit der verfahrenen Situation abfinden.
»Hast du noch genug Energie für mich?«, fragte ich Noah und stellte meine Tasche ab. Er wollte mir heute Abend eine weitere Aikido-Stunde geben. »Könnte gut sein, dass ich dich heute schlage.«
Ein Schmunzeln umspielte seine Lippen. »Für dich habe ich immer genug Energie.«
Ich wurde rot. Noah lachte, und Warren schien seinen Augen nicht zu trauen. Er war es offensichtlich nicht gewohnt, seinen Halbbruder flirten zu sehen.
»Tut nichts Unanständiges, bevor ich weg bin«, scherzte er, während er sich in Richtung Umkleideraum davonmachte.
Ich wollte ebenfalls gerade zum Umkleiden gehen, als Noah mir einen Begrüßungskuss gab, bei dem es mich am ganzen Körper durchrieselte. »Du stinkst«, sagte ich und wandte mich naserümpfend ab.
»Ich rieche männlich«, erwiderte er mit einem Lachen in den Augen.
Als ich wieder zurückkam, war Warren gegangen, und mein Training konnte beginnen. Wir trainierten fast eine Stunde, doch am Ende war ich ein wenig entnervt. Noah hielt sich zurück und gab sich alle Mühe, mich nicht zu verletzen. Das war natürlich süß von ihm, brachte mir aber nicht viel. Wie sollte ich lernen, mich zu verteidigen, wenn er mir nicht zeigte, was er draufhatte?
»Du musst aufhören, so zimperlich mit mir umzugehen«, sagte ich. »Karatos wird nicht zögern, mich zu Brei zu
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