Tochter der Träume / Roman
genug, um einen Punkt zielgenau zu finden. Und selbst wenn ich aus eigener Kraft das Portal hinter mir geschlossen hätte, um ein anderes zu öffnen, wäre ich genau dort angekommen, wo mein Vater mich haben wollte.
Wahrscheinlich war es so sicherer, aber er hatte entschieden zu viel Kontrolle über das, was ich tat.
»Hallo, Dawn.«
Die Stimme meiner Mutter, die so verdammt nah klang, zerriss mir das Herz. Wie lange würde das noch so weitergehen? Wie lange würde ich dieses Hin und Her zwischen Lieben und Hassen noch aushalten?
»Hi«, erwiderte ich. »Ist Morpheus da?«
In ihrem jugendlichen Gesicht stand ein Ausdruck von Zuversicht, eine freudige Erwartung, und ich hasste es, dass ich der Grund dafür war. »Er ist mit der Garde unterwegs, aber ich denke, er wird gleich hier sein, jetzt, wo du da bist. Tee?«
Ich zuckte mit den Schultern. Wieso versuchte sie immer wieder, mich für sich zu gewinnen? »Klar.« Ich schloss das Portal und gesellte mich dann zu ihr an den kleinen Tisch am Kaminfeuer. Auf einem Tablett in der Mitte des Tisches stand eine Teekanne aus Porzellan mit passenden Tassen sowie ein Teller mit Sandwiches. Ich konnte mir bei dem Anblick ein Lächeln nicht verkneifen, insbesondere als ich den kleinen Berg Kekse daneben entdeckte.
»Sieht ja aus wie bei Oma«, bemerkte ich. Meine Großmutter hatte auf eine pünktliche Teestunde bestanden, die jeden Tag zur gleichen Zeit stattfand. Dazu hatte es stets kleine Sandwiches gegeben, deren Kanten abgeschnitten waren. Manchmal waren sie mit Gurke oder Ei belegt, ein anderes Mal mit Lachs oder Hühnchen. Ich war gern zum Tee bei meiner Großmutter gewesen, außer an den Tagen, an denen es Lachs gab. Bis heute mochte ich das Zeug aus der Dose nicht besonders.
Aber beim Anblick der Plätzchen lief mir das Wasser im Munde zusammen. Die hatte ich seit Jahren nicht mehr gegessen.
Auch meine Mutter lächelte und nahm Platz. »Ich habe sogar Würfelzucker.«
Den hatte es bei Großmutter auch immer zum Tee gegeben. Sie hatte kleine Zuckerzangen besessen, mit denen ich die Würfel in ihre Tasse plumpsen lassen durfte, einfach deshalb, weil sie wusste, wie gern ich mit den Silberzangen spielte.
Ich setzte mich, während meine Mutter den Tee eingoss und ich den Zucker in beide Tassen gab. Wieder lächelte sie, was ich zunächst erwiderte, bis mir wieder einfiel, dass ich das ja nicht wollte.
Ihre eben noch heitere Miene verdunkelte sich, was sie sogleich älter machte. Und trauriger. »Dawn, wirst du mir jemals verzeihen?«
Ich dachte an meine Schwestern, meinen Bruder und meinen Dad, an die Enkel, die meine Mutter nie kennenlernen würde. Und ich dachte daran, wie glücklich sie hier in der Traumwelt war, glücklicher, als ich sie jemals erlebt hatte. »Nein«, sagte ich. Ihre Rehaugen füllten sich mit Tränen. »Aber ich werde versuchen, dich zu verstehen.«
Der feuchte Schimmer blieb in ihren Augen, aber da ihr keine Träne über die Wange lief, nahm ich an, dass wir eine Art Kompromiss gefunden hatten. »Danke.«
Stille entstand zwischen uns.
»Ist es dir leichtgefallen?« Ich hörte mich diese Frage stellen, die mich schon so lange beschäftigt hatte.
Meine Mutter schlug den Löffel leicht gegen ihre Teetasse, bevor sie ihn auf der Untertasse ablegte. »Was?«
»Uns zu verlassen.«
Sie umfasste die Tasse mit beiden Händen, doch ich hatte ihr Zittern bereits gesehen. »Nein. Natürlich nicht. Aber ich habe keinen von euch verlassen.«
Eine glatte Lüge. »Ach nein? Wie würdest du es nennen, wenn du ohne ein Wort des Abschieds aus unserem Leben verschwindest?«
»Darf ich dich daran erinnern, dass du auch vor deinem Vater davongelaufen bist?«
»Das ist nicht das Gleiche.« Da war ich mir ziemlich sicher. Ich schnappte mir ein Sandwich vom Teller und schob es in den Mund. Ich war zwar nicht hungrig, aber eine andere Trotzreaktion fiel mir nicht so schnell ein.
»Du hast ihm und der Traumwelt den Rücken gekehrt. Und du hast ihn nicht einmal mehr in deine Träume gelassen. Ich dagegen besuche deinen Bruder und deine Schwestern regelmäßig in ihren Träumen. Und auch meine Enkel.«
Das hatte sie schon einmal erwähnt. Hin und wieder hatten mir meine Geschwister erzählt, dass sie von Mom geträumt hatten, aber das hatte ich für gewöhnlich ausgeblendet, weil ich es nicht hören wollte. Oder schlimmer noch, ich hatte sie wie Patiententräume betrachtet und mir gesagt, dass meine Geschwister von Mum träumten, um zu kompensieren, was
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