Tochter der Träume / Roman
dass ich meine Besuche einstellen würde, sobald ich genug gelernt hätte. Oder seine Zurückhaltung war nichts weiter als die faule Masche eines Vaters, der seine Tochter in der Nähe haben wollte.
Vielleicht. Möglicherweise wollte er aber einfach nur nicht, dass ich wusste, wie ernst die Lage war.
Auf dem Weg zu Noah kaufte ich in einem asiatischen Supermarkt ein. Noah hatte den Tag in seinem Studio mit Malen verbringen wollen, und so hatte ich angeboten, mich um das Abendessen zu kümmern. Eigentlich hätte ich ihn auch zu mir einladen können, aber irgendwie war es einfacher, zu ihm zu gehen. Abgesehen davon hatte Lola heute Übernachtungsbesuch von ihrem neuen Freund, und zu viert war es in unserer Wohnung eindeutig zu voll. Außerdem wäre es ein komisches Gefühl – sie hätte Sex in ihrem Zimmer, ich in meinem. Das würde fast einer Orgie ähneln.
Es beruhigte mich ungemein zu wissen, dass Lola heute Nacht jemanden bei sich hatte und dass zudem ein Wesen aus der Traumwelt über sie wachte. Noah hingegen war allein. Als Sternzeichen Krebs schmeichelte es meinem übersteigerten Bedürfnis, gebraucht zu werden, und ich fühlte mich einfach begehrt, wenn ich bei ihm war. Solange er sich der Traumwelt fernhielt, war er zudem in Sicherheit. Aber ich wollte meine Hoffnung nicht gänzlich auf die Pillen setzen, die er derzeit einnahm. Ein so starker Träumer wie er könnte leicht durch die Barriere schlüpfen, die die Pillen errichteten.
Im Supermarkt kaufte ich verschiedene Zutaten für ein Wokgericht, darunter frischen Ingwer, Bambussprossen und Chinakohl. Außerdem erstand ich Zutaten für eine sauer-scharfe Suppe, aber das Wokgericht würde für das Abendessen genügen. Es gelang mir nie, kleine Portionen zuzubereiten, sosehr ich mich auch bemühte, und am Ende war stets genug Hühnchen, Gemüse und Nudeln für sechs Leute da.
Die Papiertüten auf dem Arm balancierend – warum gab es im Asiamarkt eigentlich nie Plastiktüten? –, klingelte ich kurz nach sechs an Noahs Tür. Er öffnete barfuß, in locker sitzenden Jeans und einem alten »Nine Inch Nails«-T-Shirt. Er nahm mir die Tüten ab und küsste mich. Vielleicht bildete ich es mir ein, aber er schien glücklicher als sonst, dass ich da war. Nein, glücklicher traf es nicht, er wirkte vielmehr erleichtert. Eigenartig.
Er half mir beim Kochen und fragte, wie mein Tag gewesen war. Dabei überließ er das Reden mir, was an sich nicht ungewöhnlich war, aber irgendetwas kam mir komisch vor. Berufsbedingte Antennen vielleicht, aber ich war auch sonst ziemlich gut darin zu erkennen, wenn jemanden etwas bedrückte. Ich wartete, bis wir mit dem Essen fertig waren und auf dem Sofa bei einem Kaffee saßen. Und da er immer noch kein Wort gesagt hatte, sprach ich ihn schließlich an.
»Was ist los?«
Er sah auf. Vielleicht war es nur das Licht, aber ich entdeckte Schatten unter der Wölbung seiner Augenbrauen, leichte Blutergüsse auf der Haut dicht unter seinen Augen. Und sein Teint hatte einen gräulichen Schimmer, den ich noch nie zuvor bemerkt hatte. Er sah krank aus.
»Ich kann nicht malen«, sagte er. Die Worte kamen deutlich und langsam über seine Lippen, als hätte er sie mit Bedacht gewählt.
Ich runzelte die Stirn. »Hast du eine Blockade?« Ich hatte von Schriftstellern gehört, die eine Schreibblockade hatten, vielleicht passierte so was auch anderen Künstlern?
»Nein.« Er starrte mich an, und sein Blick durchbohrte mich, als versuchte er, mir etwas begreiflich zu machen. »Ich
kann nicht
malen. Es ist, als sei dieser … Ort in mir tot. Keine Inspiration.«
Das war in der Tat seltsam, aber Noah verhielt sich, als hätte es damit weit mehr auf sich. »Vielleicht hattest du in letzter Zeit einfach zu viel Stress …«
»Doc, es hat nie einen Zeitpunkt in meinem Leben gegeben, an dem ich nicht fähig gewesen wäre zu malen, selbst als mein Vater meine Mutter krankenhausreif geschlagen hat. Ich sage dir, es ist verschwunden.«
Der Ausdruck in seinem Gesicht machte mir Angst und verwirrte mich, auch wenn mein Verstand eine logische Erklärung dafür suchte. »Dein Talent kann nicht weg sein. Es ist ein Teil von dir. Wie kann es denn sein, dass du nicht mehr malen kannst?«
»Es ist nicht die Begabung, es ist die Fähigkeit.«
Ich war noch immer verwirrt.
»Ich kann auch nicht mehr träumen.«
Aha, jetzt verstand ich. Ich war zwar nicht sicher, wie das möglich war, aber wenn mich meine bloße Existenz etwas gelehrt hatte, dann, dass
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