Tochter der Träume / Roman
Wahrheit über mich eingestehen. Das hatte ich schon seit sehr langer Zeit nicht mehr getan.
Der Asphaltweg war gesprungen und mit Blättern übersät. Der Herbst war meine liebste Jahreszeit, doch jedes Jahr war ich traurig, wenn die wunderschönen Blätter fielen. Die Sonne schien durch die Bäume und ließ sie golden, rostbraun und rubinrot schimmern, und das Leben hier im Park ging einen Takt langsamer. Die Menschen schlenderten – hasteten nicht aneinander vorbei. Einige saßen auf Steinhügeln oder auf Parkbänken, redeten miteinander oder lasen. Andere ließen die Dinge beschaulich an sich vorüberziehen.
Ich ging die schattige Promenade entlang, die beidseits von einem schwarzen Zaun mit Bänken gesäumt war. Hier hatte ich schon einmal mit einem alten Freund gesessen und einem Straßenmusikanten, der Violine spielte, gelauscht – und hier war David Boreanaz in meinem Traum erstochen worden. Viel wichtiger war jedoch, dass ich hoffte, dem seltsamen, alten Mann zu begegnen.
Ich wurde nicht enttäuscht.
Er saß allein auf einer breiten Holzbank, Arme und Beine weit von sich gestreckt, den Kopf auf die geschwungene Rückenlehne gestützt, und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Er sah so aus, wie ich ihn aus dem Drogeriemarkt in Erinnerung hatte, nur dass er dieses Mal kein bisschen aufdringlich war. Ich blieb unmittelbar vor ihm stehen.
Er öffnete ein Auge, sah mich kurz an und schloss es wieder. »Setz dich, Mädchen. Du stehst mir in der Sonne.«
Ich setzte mich neben ihn und hielt mein Gesicht ebenfalls in das warme Licht, das durch die Bäume fiel. Es tat gut und war beruhigend, obgleich ich jetzt, da ich den alten Mann getroffen hatte, weniger ängstlich war.
»Ich habe mich schon gefragt, wann du dich endlich blicken lässt«, sagte er schließlich mit dem für ihn typischen Südstaaten-Akzent.
»Ach, ja?« Mehr brachte ich nicht heraus.
»Es ist schon eine Weile her, dass mir ein hübsches Mädchen nicht mehr aus dem Kopf ging. Ich nehme an, du hast einige Fragen.«
Da hatte er recht. »Du weißt, was ich für ein Wesen bin, nicht wahr?«
Er blinzelte mich aus dem Augenwinkel an und wirkte dabei ziemlich beleidigt. »Jeder mit ein bisschen Erfahrung in der Traumwelt würde wissen, was du bist, Mädchen.«
Ich stöhnte auf und sah einem Kind nach, das auf Turnschuhen mit eingebauten Rollen im Absatz vorbeizischte. »Na toll.«
Der alte Mann drehte mir den Kopf zu, sonst regte er sich nicht. »Ist dein Name wirklich Dawn?«
Ich nickte. »Meiner Mutter gefiel der Name.«
Er lachte in sich hinein, und seine Augenwinkel runzelten sich wie Falten in einem Rock. Seine Zähne waren groß, gerade und schneeweiß. Vor ungefähr vierzig Jahren war er wahrscheinlich eine echte Augenweide und sah Denzel Washington ein bisschen ähnlich, heute aber glich er eher der Südstaatenversion eines Morgan Freeman. »Morpheus ist dein Vater?«
»Das hat man mir so gesagt.«
Er nahm einen Schluck Wasser aus einer Flasche, die mir bislang noch nicht aufgefallen war. »Du hast seine Augen.«
Woher, um alles in der Welt, kannte der Alte Morpheus? »Bist du ein Freund von ihm?«
Antwoine schüttelte den Kopf, einen entrückten, traurigen Ausdruck in seinem wettergegerbten Gesicht. »Wir sind uns vor fast dreißig Jahren einmal begegnet.«
Und wie bei Forrest Gump war das alles, was er dazu zu sagen hatte.
Vor dreißig Jahren. Bevor ich geboren wurde. Keine große Chance also, dass er mir helfen könnte. »Oh. Ich dachte, vielleicht könntest du mir etwas über die Träume erzählen, die ich seit kurzem habe. Über mich.«
Er musterte mich kurz von oben bis unten. »Du bist ein Traum. Ein dunkler Traum.« Das sagte er derart entschieden, dass mein Mut sank.
»Ich weiß. Ein großer, dunkler Traum – genau das bin ich.« Doch im Ernst – wer wollte schon ein Alptraum sein? Mir fiel das Gemälde mit der armen Frau ein, der ein hässlicher Nachtmahr auf der Brust saß.
»Du hast keine Ahnung, stimmt’s?«
Seine Stimme klang scharf. »Wie bitte?« Ich war vielleicht nicht die Hellste in Sachen gesunder Menschenverstand, aber beim Fernsehquiz »Jeopardy« war ich spitze, wenn nicht gerade Politik drankam. Ich trug schließlich einen Doktortitel, um Himmels willen.
Jetzt wandte er sich auch mit dem Oberkörper mir zu. Er war klein und drahtig, und ich wusste, dass er mich locker windelweich prügeln könnte. »Dunkle Träume sind nicht so unbedeutend wie niedere Träume. Du bist eine Wächterin
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