Tochter der Träume / Roman
genau wie Morpheus, auch wenn ich einmal beschlossen hatte, sie zu verlassen. Ich straffte die Schultern und sah ihm mit festem Blick entgegen, obgleich mir die Angst in allen Gliedern saß. Es war seine Aufgabe, dieses Problem zu beheben, nicht meine.
»Du bist ein Traum.« Morpheus’ Stimme klang nun mindestens eine Oktave tiefer. »Wächterin der Traumwelt, geboren, um all jene, die diese Welt durchwandern, vor Wesen wie Karatos zu schützen.«
»Gib mir nicht die Schuld dafür. Ich bin seit Jahren nicht mehr Teil deines Reichs.«
»Und wessen Schuld ist das?« Der blanke Schmerz, der aus seinem Gesicht sprach, schockierte mich. Dass ich seiner Welt den Rücken gekehrt hatte, hatte ihn offenbar schwer gekränkt. Wie sehr es ihn getroffen haben musste, war mir damals, als kleines Mädchen, nicht klar gewesen. Später, als meine Mutter in Schlaf sank und damit ihre Familie verließ, hatte ich mich noch mehr von ihm abgekehrt.
Ich öffnete den Mund, doch er kam mir zuvor. »Du hättest imstande sein müssen, dich selbst zu schützen, als er dir zu Leibe gerückt ist, doch hast du das nie gelernt, weil du weggelaufen bist.«
»Ich …«
»Und ich habe es zugelassen.« Seine Miene verdunkelte sich. »Ich hätte dich zur Rückkehr zwingen müssen. Dann wärst du wenigstens imstande gewesen, dich selbst zu verteidigen.«
Meine Mutter trat zu ihm und legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. Für ihn würde sie mich jederzeit wieder verlassen. Und nicht nur mich – uns alle. Das tat noch immer weh.
Ich wollte nicht länger bleiben, wollte nach Hause und in mein Bett. Zurück in die Welt, die ich kannte, denn in dieser Welt …
In dieser Welt erinnerte ich mich an schöne Dinge, und es tat mir leid um all das Schöne. Ich war noch immer zu sehr darin verhaftet, fühlte mich noch immer zu sehr als ein Teil des Mannes, der meine Familie zerstört hatte – und immer noch dabei war, sie zu zerstören.
»Du sagtest, es gäbe eine Bedingung.« Mit kühler Stimme richtete ich meine Worte an das stumme Paar vor mir. »Wie lautet sie?«
Morpheus hob den Kopf und richtete seine eisigen Augen auf mich. »Dass du lernst, was es heißt, ein Traum zu sein. Dass du akzeptierst, was du für ein Wesen bist.«
Es akzeptieren? Wohl kaum. Zu lernen, was es hieß, ein Traum zu sein, schon eher, wenn ich – und Noah – dadurch unversehrt blieben.
Es geht darum, was du für uns alle bist.
Wer war »uns alle«?
»Einverstanden«, stimmte ich zu.
Er musterte mich kritisch. Er kannte mich zu gut und wunderte sich über meine prompte Einwilligung. »Das heißt, dass du Zeit in dieser Welt verbringen wirst. Mit uns.«
Ich sah von Morpheus zu meiner Mutter, und heller Zorn packte mich. »Das sind bessere Bedingungen, als deine anderen Kinder bekommen haben, stimmt’s?«
Meine Mutter wurde kreidebleich, sie sah aus, als hätte ich sie geohrfeigt. Ihr Anblick befriedigte mich nicht im Geringsten, und die Ärztin in mir hätte mir liebend gern den Grund dafür zugeschrien. Doch ich sagte der Ärztin, dass sie die Klappe halten sollte. Ich wollte noch ein bisschen länger das Kind sein, das von seiner Mutter verlassen worden war.
Morpheus legte einen Arm um meine Mutter und hielt sie fest an sich gedrückt, doch als er mich ansah, lag Verständnis in seinem Blick. »Haben wir eine Vereinbarung, Dawn Marie?«
Ich nickte steif. »Ja.« Ja, ich würde lernen. Ich würde die geforderte Zeit in ihrer Gegenwart ableisten. Doch wenn er glaubte, dass ich wie die vernachlässigte Tochter zu Kreuze kriechen und ihnen verzeihen würde, hatte er sich geschnitten.
Er lächelte sogar. Auch meine Mutter lächelte, obwohl sie meinem Blick auswich. »Wann möchtest du anfangen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wie wäre es mit jetzt sofort?« Je eher ich anfing, desto eher würde er Karatos den Garaus machen, und ich könnte in meine reale Welt zurückkehren.
Und wer wusste es schon, vielleicht lernte ich sogar etwas Nützliches.
Etwas, das meine Mutter zwingen würde, aufzuwachen und zu ihrer verlassenen Familie zurückzukehren.
[home]
Kapitel 7
D ann ging er auf mich los.
Natürlich nicht wörtlich, obgleich ich sicher war, dass er gute Lust dazu gehabt hätte. Es war ein Spiel – wie wir es früher oft gespielt hatten, als ich noch klein war. Morpheus formte aus dem Urstoff der Träume verschiedene Gebilde, die ich dann verwandeln durfte. Mein Vater war buchstäblich das »Morph« in dem Wort »Metamorphose«.
Das
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