Tochter der Träume / Roman
und auf den Menschen, den du finden willst. Dein Freund ist sehr stark, aber er schützt sich. Du wirst dich gründlich nach ihm umsehen müssen.«
Okay. Ich schloss die Augen und stellte mir Noah bildlich vor. Ich stellte mir vor, wie ich die Hand nach ihm ausstreckte, den Nebelvorhang teilte und seiner Spur folgte. Wie das genau funktionierte, konnte ich nicht erklären, aber es war ein bisschen so, als wäre ich eine Fährtenleserin, die Witterung aufnahm, oder ein Magnet, der in eine bestimmte Richtung gezogen wurde. Ich durchquerte das Nebelgespinst der Traumwelt, so rasch ich konnte, damit mich ja nichts packen konnte. Ich wusste, wo Noah zu finden war, ich musste nur irgendwie dorthin kommen.
Vielleicht würde ich eines Tages so weit sein, dass ich mir einen Ort nur vorzustellen brauchte, um dorthin zu gelangen. Doch jetzt musste ich das Reich meines Vaters noch durchqueren.
Noahs Gegenwart wurde stärker wahrnehmbar. Ich spürte ihn deutlich. Ich war fast da.
Da packte mich etwas am Arm und zwang mich abrupt zum Stehenbleiben. Mit hämmerndem Herz versuchte ich, meinen Arm wegzuziehen.
»Dich dürfte es nicht geben«
, zischte eine Stimme dicht an meinem Ohr, und es war, als liefe mir Blut aus den Ohren und meine Schläfen hinab.
Ich versetzte dem Nebel einen harten Stoß. Ich wusste nicht, wie es geschehen war, aber während ich eben noch ängstlich versucht hatte, wegzukommen, war ich nun frei und hörte nur noch die Schreie des Geschöpfs, das ich vertrieben hatte. Darin sollte ich schnell besser werden.
Ich nahm Noahs Spur mit meinen Sinnen wieder auf und rannte auf ihn zu. Vor mir teilte sich der Nebelschleier, begann, Wirbel zu bilden, und nahm schließlich eine Form an. Ich stand nun an der Schwelle zu Noahs Traum und betrat durch die hauchdünnen Schwaden seine Welt.
Ich befand mich in einer hellen, ordentlichen Küche mit einem gefliesten Boden. Jemand weinte. Eine Frau. Ich drehte den Kopf, und da stand Noah, in Jeans und weißem T-Shirt. Er war barfuß, stand über die Frau gebeugt, die mit dem Rücken gegen einen Schrank gelehnt auf dem Boden saß. Sie weinte und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Auf ihrer Wange war ein großer blauer Fleck, und ihre Lippe war aufgeplatzt.
Noah stand einfach nur da, das Gesicht von Frustration gezeichnet.
»Noah?«
Er fuhr herum, als er meine Stimme hörte. Ich sah, dass auch seine Lippe verletzt und sein T-Shirt blutig war. Hatten die beiden miteinander gekämpft?
»Was machst du hier?«, fragte er und kam auf mich zu.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte, doch sein Blick machte mir Angst. »Ich muss mit dir sprechen«, sagte ich.
»Du hast hier nichts zu suchen.« Auf seinen Wangen prangten zwei riesengroße blaue Flecken. »Du musst verschwinden.«
»Verzeihung. Aber eine Tür zum Anklopfen gab es nicht.«
Die Frau rappelte sich auf. »Noah? Wer ist das?«
Wir drehten uns beide zu ihr um. Und da erkannte ich sie. Es war die Frau auf dem Gemälde mit dem Titel
Mutter
, das ich auf der Vernissage gesehen hatte. Noahs Mutter. Die Ähnlichkeit war unverkennbar.
Hatte er seine eigene Mutter geschlagen? Nein. Er hatte immer in den höchsten Tönen von ihr gesprochen. Es musste jemand anderes gewesen sein.
»Was ist hier los?«, fragte ich, doch statt einer Antwort hörte ich polternde Schritte. Es klang, als käme jemand die Treppe hinunter, aber das so laut, als donnerte ein Riese herab. Noah wandte abrupt den Kopf in Richtung Treppe.
»Du musst verschwinden«, sagte er und packte mich am Arm. »Raus hier.« Er fürchtete sich vor demjenigen, der herunterkam, und ich hatte eine recht präzise Vorstellung davon, wer dieser Jemand war.
Ich versuchte, ihn festzuhalten, aber er schüttelte mich ab. »Lass mich dir helfen.«
»Ich brauche keine Beschützerin!« Sein Zorn erschreckte mich, doch ich hatte das Gefühl, dass nur ein sehr kleiner Teil davon gegen mich gerichtet war.
»Ich will dir nur helfen«, probierte ich es noch einmal.
Seine Augen funkelten, als er mich ansah. »Ich habe dir nie erlaubt, in meine Träume zu kommen.«
Jetzt wurde es zu viel. »Ich wollte doch gar nicht …«
Das Poltern wurde lauter, während Noah immer hektischer wirkte. Er wollte nicht, dass ich sah, wer da kam. »Raus!«
Und dann war es, als hätte er mir die Tür vor der Nase zugeschlagen. Ich war fassungslos. Ich stand da, starrte in seine Richtung und sah … nichts. Ich befand mich auf der anderen Seite einer riesigen, schwarzen Wand,
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