Tochter der Träume / Roman
die sich nach allen Seiten zog, so weit mein Auge reichte. Noah hatte mich buchstäblich ausgesperrt.
Am liebsten hätte ich die verdammte Wand eingerissen und laut protestiert, hätte ich nicht so eine fürchterliche Angst vor den Wesen gehabt, die im Nebel lauerten. Ich weckte mich stattdessen auf – zumindest fühlte es sich so an. In Wirklichkeit öffnete ich ein Portal zwischen den Welten und ging zurück in die menschliche Welt. Als ich die Augen öffnete, lag ich wieder in meinem Bett, wo sich Fudge neben mir zusammengerollt hatte.
Ich wünschte, ich hätte weinen können. Aber die Tränen kamen nicht. Nicht einmal für die arme Nancy Leiberman. Ich war viel zu verängstigt und hilflos, um zu weinen. Weinen bedeutete, dass man noch Hoffnung hatte.
Doch die begann ich langsam zu verlieren.
Der nächste Tag war ein Samstag. Ich nahm mir etwas Zeit, im Internet über Alpwesen und Traumdämonen zu forschen. Es gab nur wenig zutreffende Informationen über echte Traumwesen. Doch der 232. Treffer bei Google führte mich auf eine kleine Website über Mythologien, auf der einiges zu Traumwesen als Hüter der Traumwelt zu lesen stand. Traumwesen, so hieß es, seien so stark, dass selbst Dämonen sie fürchteten. Die Zeiten hatten sich offenbar geändert, denn ich fühlte mich keineswegs furchtbar stark.
Ich unterbrach meine Recherchen, um etwas zu essen und zur Ruhe zu kommen. Außerdem ließ ich einen Kranz an das Beerdigungsinstitut liefern, wo Nancys Leiche aufgebahrt war, sowie Blumen an ihre Familie.
Ich versuchte, nicht daran zu denken, wie sehr sich mein Leben innerhalb der letzten Wochen verändert hatte. Eigentlich versuchte ich, an gar nichts zu denken, da es mir sonst sofort die Kehle zuschnürte, und ich nicht wusste, wo mir der Kopf stand. Ich erkannte die Angst und war fest entschlossen, ihr zu entfliehen.
Als Noah um zwei Uhr nachmittags anrief, ließ ich den Anrufbeantworter drangehen, obwohl ich eigentlich gern mit ihm gesprochen hätte. Doch ich war noch immer ein wenig durcheinander und vor allem verletzt, weil er mich so rigoros ausgeschlossen hatte. Ich hatte schließlich nicht die Absicht gehabt, in seinen Traum zu platzen, aber Träume hatten nun einmal keine Klingel. Sonst hätte ich mich angekündigt.
Doch ich durfte mir nichts vormachen. Sosehr ich Noah auch mochte, es häuften sich die Gründe, ihm fernzubleiben. Er war ein verschlossener Typ und ein bisschen seltsam. Aber damit könnte ich umgehen, wenn ich die Gründe kennen würde.
Er wusste, dass ich ein Traumwesen war, verflucht noch mal. Und ich bin immerhin seine Psychologin gewesen, daher müsste ich eigentlich viel mehr über ihn wissen, als ich es tat. Warum war es so mühsam, etwas aus ihm herauszubekommen? Ich vermutete stark, dass sein Vater seiner Mutter und auch Noah gegenüber gewalttätig gewesen war. Doch solche Vorkommnisse waren heutzutage kein Tabu mehr. Warum wollte er sie dann verbergen?
Sollte er doch auf meinen Anrufbeantworter sprechen. Nicht, dass er sich noch einbildete, ich säße den ganzen Tag herum und wartete nur auf seinen Anruf, auch wenn ich genau das tat. Aber das brauchte er ja nicht zu wissen.
Ich wartete ganze zwei Minuten ab, bis ich mir gestattete, seine Nachricht abzuhören.
»Doc? Ich bin es, Noah. Ich …«
Eine längere Pause folgte.
»Ruf mich zurück.«
Und das war’s. Er hatte aufgelegt.
Hatte ich etwa mehr erwartet? Dass er sich … vielleicht … entschuldigen würde? Eigentlich ja, doch seine Stimme auf der Mailbox hatte unsicher geklungen. Wie sicher konnte ich mir dessen sein, auf der Basis von neun Worten? Ich könnte die Beleidigte spielen und ihn zum Teufel jagen. Könnte meine Wunden lecken und dann weitermachen wie bisher, Noah als Problem abhaken.
Die Sache war nur die, dass ich ihn nicht abhaken wollte. Ich wollte Noah, brachte es nicht fertig, ihm einfach den Rücken zu kehren. Ja, ich würde ihn zurückrufen. Aber nicht sofort. Einerseits war ich gespannt, was er zu sagen hatte, andererseits hatte ich auch ein wenig Angst davor. So oder so, ich brauchte noch etwas Zeit.
Ich legte mich ins Bett und übte, einzuschlafen und wieder aufzuwachen. Wenn ich mir im Stillen die »La-la-la«-Liedchen meiner Mutter vorsang, gelang es mir erstaunlich gut, in Schlaf zu sinken. Vielleicht lag es daran, dass sie durch ihren eigenen Schlaf so fest mit der Traumwelt verwurzelt war und es mir daher leichtfiel, ihrem Pfad zu folgen. Oder es hatte damit zu tun, dass der Gott
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