Tochter der Träume / Roman
des Schlafs mein Großvater väterlicherseits war. Jedenfalls war ich binnen weniger Minuten in tiefen Schlaf gesunken und stand vor dem Schloss meines Vaters. Das Aufwachen ging noch leichter. Ich musste mich lediglich auf die Rückkehr in diese Welt konzentrieren und die Augen aufschlagen.
Eines Tages würde ich in der Lage sein, auch im wachen Zustand zwischen den Welten zu wechseln, allerdings nur, wenn ich mich weiterhin auf die Traumwelt einließ. Vielleicht würde ich auch die Nase voll davon haben, sobald Noah und ich in Sicherheit waren, und mit meinem Leben weitermachen wie bisher.
Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen.
Ich übte fleißig weiter, bis ich erschöpft war und ein echtes Nickerchen brauchte. Als ich vom Klingeln des Telefons aufwachte, war es schon nach fünf Uhr. Julie war dran und wollte wissen, wann ich heute Abend zu ihr kommen würde. Wir wollten uns bei ihr ein paar Cocktails gönnen und anschließend in unsere Lieblingsbar gehen.
»Sag bloß, du hast geschlafen?«, fragte sie mit einem Lachen in der Stimme.
Ich ließ mich zurück in die Kissen fallen. Draußen war es inzwischen fast dunkel, das schwindende Tageslicht war nicht mehr als ein schwach rötlicher Schimmer, der durch mein Fenster fiel. »Ja.«
»Langweilerin.«
Wenn sie wüsste. »Ich komme gegen neun.«
»Bring Ananassaft mit. Kokosrum habe ich da.«
Ich grinste in den Hörer. »Damit kriegst du mich.« Ich liebte Kokosrum und könnte ihn trinken wie Wasser.
»Nun, dann nichts wie raus aus den Federn, du kanadischer Schluckspecht«, scherzte sie. »Bis um neun.«
Für dieses erbärmliche Vorurteil waren Bob und Doug McKenzie aus »Zwei Superflaschen räumen auf« verantwortlich, ein Film, den Julie vermutlich zu häufig gesehen hatte.
Ich kroch aus dem Bett und versuchte, den Schlaf abzuschütteln, der mich erneut übermannen wollte. Eine Sekunde lang sah ich Karatos im Nebel an der Schwelle zur Traumwelt stehen, ein höhnisches Grinsen auf den Lippen. Er sah düster aus, gefährlich und auf abscheuliche Weise verführerisch. Ich fühlte einen Druck in meinem Innern, als läge ein Faden um meine Seele, an dem jemand zog.
Ich befand mich noch weit genug in der Traumwelt, so dass er versuchte, mich ganz hineinzuziehen. Verdammter Scheißkerl. Er hatte abgewartet, mich vielleicht sogar beobachtet und auf seine Chance gewartet, um nach mir zu greifen, wenn ich unvorbereitet war. Verwundbar war.
Heller Zorn packte mich, und ich hielt dagegen. Ich spürte, wie eine große Kraft wellenförmig durch die unsichtbare Verbindung zwischen uns strömte. Vor meinem inneren Auge – dem Teil, der noch in der Traumwelt war – konnte ich sehen, wie Karatos nach hinten taumelte und dann verschwand.
Das sollte ihm eine Lehre sein, sich nicht mit mir anzulegen, dachte ich mit einem zufriedenen Lächeln. Aber halt – er war in der Traumwelt gewesen. Wie war das möglich, ohne dass Morpheus davon wusste? Hatte der Dämon gedacht, er könne mich in die Traumwelt ziehen und als Geisel benutzen? Oder handelte er etwa mit Zustimmung meines Vaters?
Das konnte ich nicht glauben – nicht ganz jedenfalls. Es sei denn, es war alles ein abgekartetes Spiel, um mich zurück in den väterlichen Schoß zu ziehen. Doch das wollte ich genauso wenig glauben, auch wenn der Zweifel blieb.
Verflucht. Wie es schien, zweifelte ich neuerdings an vielen Menschen, aber wenn jemand misstrauisch war, dann ich. Meine Schwester Anne hatte mir früher immer vorgeworfen, dass ich an Verfolgungswahn litt, aber sie hatte eh ständig auf mir herumgehackt.
Zum Abendessen bereitete ich mir ein überbackenes Thunfischbaguette mit extra viel Käse zu, das ich genüsslich vor dem Fernseher verspeiste, während auf dem Science-Fiction-Kanal eine Wiederholung von
Dark Angel
lief, in der Jessica Alba reichlich Schläge austeilte. Kam mir die gleiche Rolle in der Traumwelt zu? Ich war ein dunkler Traum. Eine Wächterin. War ich auch eine Kämpferin?
Der Gedanke hatte durchaus seinen Reiz. Ich würde lügen, wenn ich das Gegenteil behauptete. Es wäre mir ein Vergnügen, so lange auf Karatos’ bildhübsches Gesicht einzuschlagen, bis es so hässlich aussähe, wie er es verdient hatte.
Es ärgerte mich, dass er in der Traumwelt gewesen war. Ich hätte wieder einschlafen und meinen Vater aufsuchen sollen, um ihn zur Rede zu stellen. Aber ich fürchtete mich. Was, wenn Karatos mir auflauerte und mich zu fassen bekam? Was, wenn ich nicht stark genug war? Ich war
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