Tochter des Glücks - Roman
werfe einen kurzen Blick auf Ta-ming, denn ich bin mir nicht sicher, wie offen ich sprechen kann.
»Diesen Preis habe ich nicht zum ersten Mal gezahlt«, sagt Kumei. »Es ist nicht so schlimm, wie du denkst, doch gestern Abend hatten der Brigadeführer und ich eine Meinungsverschiedenheit. Ich musste mich um Ta-ming kümmern, aber der Brigadeführer wollte, dass ich mich stattdessen um ihn kümmere.«
Ich schließe die Augen. Natürlich, das musste es sein. Der Brigadeführer brauchte nicht im Hofhaus zu wohnen, er hatte ja schon die Führungshalle – das sicherste und angenehmste Gebäude in der Kommune. Ich hatte nur wenige Tage gleichzeitig mit Brigadeführer Lai im Hofhaus gewohnt, nachdem ich ins Gründrachendorf zurückgekehrt war und bevor ich Tao heiratete, aber ich erinnere mich, dass meine Mutter manchmal darüber klagte, sie sei nachts aufgewacht, weil jemand herumschlich. Das musste der Brigadeführer gewesen sein, wenn er in Kumeis Zimmer ging oder von dort kam. In China gibt es keine Geheimnisse, nicht einmal in einem so großen Haus, doch warum hatte ich nicht vorher begriffen, was vor sich ging? Weil ich eine Idiotin bin.
»Hast du schon gegessen?«, fragt Yong. Ihre Stimme ist kaum ein Flüstern. »Möchtest du Tee?«
Diese beiden Fragen werden stets gestellt, wenn ein Gast zu Besuch kommt. Trotz all ihrer Qualen steht Yong noch weit über den Barbaren vor den Mauern des Hofhauses.
Kumei erinnert sich an ihre Rolle als Gastgeberin, erhebt sich und setzt Teewasser auf.
Später, nachdem die Bauern gegangen sind, hole ich Wasser aus dem Bach. Das kalte Wasser wird Yongs Füßen guttun. So etwas Verstörendes habe ich noch nie gesehen. Ihr wurden die Zehen und der Mittelfuß gebrochen und zusammengerollt, bis die Zehen an der Ferse anstießen. In dieser Haltung wurden die Füße dann jahrzehntelang einbandagiert. Jetzt sind sie gelöst, aber nur wenig. Sie sehen aus wie Bogenbrücken – nur die Zehen und die Fersenrückseite berühren den Boden. Die Kader zwangen sie, barfuß zu laufen, sodass ihre Haut, die babyzart aussieht, nachdem sie all diese Jahre vor der Welt verborgen war, aufgerissen und geplatzt ist. Die Farbe? Die gehört zu keinem Lebewesen. Ich möchte tapfer sein und helfen, aber mir dreht sich der Magen um. Was immer ich gegessen oder getrunken habe, ich wünschte, es würde schneller durch mich hindurchgehen, so wie damals bei meiner Ankunft mit Z. G.
Schon seit Langem mache ich mir Gedanken über Yong und Kumei. In der Vergangenheit habe ich mir romantische Geschichten ausgedacht, besonders über Kumei. Nun, da ich ihnen vor den Augen aller anderen geholfen habe, wird das wahrscheinlich auch auf mich ein schlechtes Licht werfen. Daher muss ich wissen, aus welchem Grund die ganze Kommune eine derartige Abneigung gegen sie hegt.
»Warum hassen sie euch so?«, frage ich.
Direkter und amerikanischer geht es nicht. Ich rechne damit, dass meine Unhöflichkeit sie verschreckt, doch stattdessen sehen sie mich an, als wäre ich schwer von Begriff.
»Mein Gebieter war der Grundherr«, antwortet Yong und betastet die weiße Schleife, die sie für den Rest ihres Lebens als Schandmal tragen wird. »Wusstest du das nicht?«
»Doch, aber ich verstehe immer noch nicht, was sie gegen euch haben.«
»Wir sind das Letzte, was von seinem Haushalt noch übrig ist«, sagt Kumei. »Die Leute glauben, wir hätten privilegiert gelebt, aber er war ein schlechter Mensch, und wir mussten viel ertragen …«
»Ich weiß, dass du so denkst«, unterbricht Yong sie. »Doch ich fand, er war ein guter Mensch. Er hat sich um die Leute hier gekümmert. Als die Achte Marscharmee kam und die Soldaten von ihm verlangten, sein Land umzuverteilen, hat er das ohne Widerrede getan.«
»Ich hatte noch nie das Wort Grundherr gehört, bevor die Armee gekommen ist«, sagt Kumei.
»Weil es dieses Wort nicht gegeben hat«, erklärt Yong mit vor Schmerzen verzerrter Stimme. »Alle nannten den Gebieter immer en ren , das bedeutet Wohltäter . Doch die Soldaten verliehen ihm einen neuen Titel – dichu – Grundherr . Nachdem die Soldaten weg waren, dachten wir, alles würde gut. Stattdessen traten die verborgene Wut und die Missgunst der Dorfbewohner zutage.«
Kumei hält einen Fuß von Yong in der Hand und lässt mit der anderen Hand kaltes Wasser über die lila und grün verfärbte Haut rinnen. Gebundene Füße zu waschen, gehörte immer zu den Dingen, die stets in völliger Zurückgezogenheit verrichtet werden
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