Tochter des Glücks - Roman
Versuchung, alles in sich hineinzuschlingen, wäre für sie zu groß. Glücklicherweise haben sie nicht die Kraft, sich zu widersetzen, und bleiben gehorsam liegen, während ihnen die beiden Dienstmädchen Brühe in den Mund löffeln. Ta-ming, jung, aber doch bemerkenswert widerstandsfähig, sitzt mit Z. G. und mir am Tisch. Das dritte Dienstmädchen bringt ein Tablett mit Schalen, Essstäbchen, Servietten, einer Teekanne und Teetassen. Auf dem Tablett ist gerade genug Platz für eine kleine Schüssel Reis, die den Raum mit einem anheimelnden und Sicherheit vermittelnden Duft erfüllt. Sie stellt die Schüssel vor Ta-ming hin, bevor sie in die Küche geht, um die restlichen Speisen zu holen. Der Junge starrt den Reis an. Dann sehen Z. G. und ich erstaunt zu, wie er die Reiskörner einzeln verteilt – eines für Z. G., eines für mich, eines für ihn – und auf dem Tisch drei kleine Haufen daraus macht, was zeigt, wie sehr sie hungern mussten. Leben und Tod sind nur durch einen dünnen Faden voneinander getrennt, beziehungsweise heute durch ein paar Reiskörner.
J OY
Wahre Freude
D er Drachen stößt herab und wirbelt herum. Ta-ming hat die Schnüre in der Hand, aber der Wind zerrt so stark an dem Drachen, dass sich Z. G. hinter den Jungen stellt und ihm die Schultern hält. Das ist nicht nur ein Drachen am Ende einer Schnur, Z. G. und Ta-ming haben einen ganzen Schwarm Goldfische gebastelt, jeder mit eigenen Flossen und Schwanz. Als Nächstes könnte es ein Schwarm Schmetterlinge mit flatternden Flügeln sein oder ein Schwarm Kraniche, der vor dem frischen Herbsthimmel im Wind aufsteigt und herabsinkt.
Es ist Anfang November und sieben Monate her, seit meine Mutter und Z. G. uns gerettet haben. Wir sind Geister, die von den Toten auferstanden sind, und heute bekommen wir eine Ahnung dessen vermittelt, wie das Leben aussehen kann. Wir müssen vergessen, und wenn es nur für ein paar Stunden ist. Wenn ich China verlasse – falls es uns gelingt, hinauszukommen –, werde ich mich hauptsächlich an die Sonntage erinnern, an den einen Tag in der Woche, an dem wir mehr oder weniger tun und lassen können, was wir wollen. Wir sind zur Lunghua-Pagode gefahren. Die anderen haben mir erzählt, dass Z. G., meine Mutter und meine Tante hier vor Jahren immer Drachen steigen ließen. Damals stand die Pagode auf unbebautem Land, das von jungen chinesischen Soldaten besetzt worden war, die auf den Kampf warteten. Später hatten die Japaner hier ein Gefangenenlager für britische Staatsbürger eingerichtet. Jetzt ist es ein Park. Ulmen, Gingko und Kampferbäume – grün und üppig – atmen Leben. Händler bieten kleine Spielzeuge an – Papierlöwen als Glücksbringer, Drachen auf Stöckchen, die tanzen und sich winden. Ein Musiker spielt auf einer erhu , Volkslieder werden gesungen, Jongleure, Akrobaten und Zauberer bringen uns mit ihren geheimnisvollen Künsten zum Staunen. Alte Männer schlurfen daher, die Hände auf dem Rücken. Alte Frauen sitzen breitbeinig auf Steinbänken, die Hände auf den Knien. Wenn man genug Geld hat, und das haben wir, kann man sich etwas zum Naschen kaufen – einen Karamellbonbon, einen Schokoriegel oder einen Eislutscher. Der Große Sprung nach vorn geht anderswo weiter. Unmengen von Menschen sterben, aber wir sind glücklich … und gesund.
Ich werfe meiner Mutter, die neben mir steht, einen Blick zu. Sie schirmt die Augen ab, während sie zu Z. G.s Drachen hinaufschaut. Dann sieht sie mich an und lächelt.
»All das Leid hat mir den Geschmack daran verdorben, über die Vergangenheit zu grübeln«, sagt sie. »Schau dir an, was ich hier auf Erden habe. Meine Tochter, meine Enkelin, Z. G., Dun und Ta-ming sind alle hier bei mir. Wir sind eine Familie. Darüber hinaus sind wir vielleicht die Familie …« Sie lacht. »Wir sind vielleicht die Familien , die wir schon die ganze Zeit über sein sollten.«
Sie streckt die Arme aus, als wollte sie die Welt umarmen. Ihre Worte zeigen mir, wie amerikanisch sie geworden – und es auch hier in China geblieben ist. Sie drückt ihre Gefühle nicht nur in Worten und Körpersprache aus, sondern sie strebt nach Glück, als wäre das ihr Recht. »Das ist die wahre Freude, und ich möchte so lange wie möglich daran festhalten.«
Auch ich will das.
Tao, Ta-ming, Samantha und mich wieder gesund zu pflegen und aufzupäppeln, muss für meine Mutter ein entsetzlich langsamer, quälender Prozess gewesen sein. Ta-ming war der Erste, der wieder zu Kräften
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