Tochter des Glücks - Roman
wegen seines bourgeoisen Benehmens kritisieren oder eine Frau wegen ihrer rechten Tendenzen. Was ich eigentlich denke, behalte ich für mich. In meinem eigenen Viertel kann ich mich nicht als ungebildete Papiersammlerin tarnen. Meine Nachbarn wissen um meine dekadente Vergangenheit und meinen langen Aufenthalt im Westen. Ich gelte als Person mit »einem historischen Problem«. Jeden Augenblick kann es passieren, dass ich angegriffen werde, aber Dun hat mir geraten, möglichst bei allem mitzumachen, was mir eingedrillt wird, umso besser sei ich dran. Je mehr ich gestehe – und das fällt mir wirklich nicht schwer –, desto mehr traut man mir.
Als ich nach Hause gehe, sind die Straßen so gut wie menschenleer. Wenn ich ein einziges Beispiel dafür nennen müsste, wie sehr sich Shanghai verändert hat, dann wäre das die Tatsache, dass die Stadt um neun Uhr abends schläft. Nicht einmal Autos dürfen nach neun noch fahren, außer sie haben eine Sondererlaubnis. Zu Hause angekommen, werfe ich einen Blick auf den Tisch am Eingang, um zu sehen, ob Post gekommen ist. Ich habe so lange darauf gewartet, von May zu hören, dass ich schon fast alle Hoffnung aufgegeben habe. Aber heute Abend liegt da ein Päckchen mit einer Handschrift, die ich nicht kenne. Der Poststempel verrät, dass es aus dem Dorf Wah Hong kommt. Das Päckchen wurde geöffnet und nachlässig wieder verschlossen. Ich schnappe es mir, laufe nach oben in mein Zimmer und schließe die Tür.
Ich reiße die Verpackung auf. Die Schachtel enthält einige Kleidungsstücke und ein paar andere Gegenstände. Obenauf liegt ein Umschlag mit Mays Handschrift. Ich öffne den Brief und lese nur die erste Zeile – »Gute Nachrichten! Joy hat einen Brief geschickt« –, bevor ich rasch die Schachtel nach einem anderen Umschlag mit der Handschrift meiner Tochter durchsuche. Ich finde ein paar Pullover, ein Päckchen Damenbinden und den Hut mit Federn, den ich vor vielen Jahren trug, als ich China verließ. Diesen Winter werde ich dankbar sein für die Pullover, wenn ich dann noch da bin. Die Binden sind eine Wohltat, verglichen mit dem, was es hier zu kaufen gibt. Aber Joys Brief finde ich nicht. Ich nehme den Hut zur Hand. Als wir damals auf Angel Island angekommen sind, habe ich das Handbuch mit unseren Anweisungen im Futter versteckt, und später Geld. Ich brauchte einen Augenblick, aber nur ich würde die Bedeutung dieses besonderen Hutes verstehen. Vorsichtig ziehe ich das Futter zurück. Ein Zwanzig-Dollar-Schein und zwei weitere Umschläge kommen zum Vorschein, beide sind nicht beschriftet.
Ich öffne einen der Umschläge, und da sehe ich die akkurate Handschrift meiner Tochter. Der Brief beginnt mit: »Liebe Pearl und May«, als wären wir Freundinnen und nicht ihre Mutter und ihre Tante. Ihre Förmlichkeit bohrt sich mir wie ein Messer ins Herz.
Ich schreibe dies auf dem Schiff nach Shanghai. Der Kapitän soll den Brief aufgeben, wenn er nach Hongkong zurückkehrt. Sicher macht Ihr euch Sorgen um mich. Vielleicht seid Ihr auch böse auf mich. Wie auch immer, Ihr sollt wissen, dass es mir gut geht. Wirklich. In Chinatown habe ich mich nie zu Hause gefühlt. Jetzt gehe ich in meine richtige Heimat. Ich weiß, dass Ihr an mir zweifelt, und ich kann Onkel Vern geradezu hören, wie er über den Kommunismus schimpft. Bitte seid Euch sicher, dass ich weiß, was ich tue. Ich bin Euch dankbar für alles, was Ihr für mich getan habt, aber von nun an wird der Vorsitzende Mao meine Mutter und mein Vater sein. Wenn ich falsch denke – doch das tue ich nicht –, werde ich mit den Folgen leben. Ihr beide habt mich gelehrt, wie das geht – mit den Folgen zu leben. Ich war selbst eine Folge. Das weiß ich jetzt.
Es tut mir leid, dass ich Euch beiden zur Last gefallen bin. Es tut mir leid, dass ich ein Fehler war, unter dem Ihr so lange Jahre leiden musstet. Macht euch darüber jetzt keine Gedanken mehr. Ich werde Euch beide immer lieben.
Alles Liebe, Joy
Ich fahre mit dem Finger über Joys Worte und versuche sie mir beim Schreiben vorzustellen. Hat sie geweint, so wie ich jetzt? Sie ist so selbstsicher, aber mit neunzehn ist das normal. Wie kann sie behaupten, sie habe sich in Chinatown nie zu Hause gefühlt? Wir haben alles – alles – getan, um ihr ein gutes Heim zu bieten, deshalb wird meine Freude über den Brief meiner Tochter durch Enttäuschung gedämpft. Mit diesem Gefühl öffne ich den anderen Umschlag.
Liebe Pearl,
wenn Du dies liest, weißt Du, dass
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