Tochter des Glücks - Roman
gekümmert hätten. Die Tapete ist fleckig, schmutzig und an manchen Stellen zerrissen. Die Teppiche, Vorhänge und Polster sind in einem fürchterlichen Zustand. Aber jetzt bin ich zurück, und ich werde Tante Hus Ratschlag befolgen. An meinem nächsten freien Tag will ich in ein Pfandhaus und auf einen Flohmarkt gehen. Ich will ein paar Sachen für das Haus kaufen und mir eine Kamera besorgen. Mir fällt ein, wie streng die Wachmänner im Zug waren, sie schlossen die Jalousien, damit man keine Brücken oder militärischen Anlagen sehen konnte. Ich habe keine Ahnung, was passieren würde, wenn ich zum Beispiel versuchen würde, die am Bund vor Anker liegenden Kriegsschiffe zu fotografieren, aber das habe ich auch nicht vor. Wenn möglich, möchte ich die Bilder irgendwo entwickeln lassen, damit ich sie May schicken kann. In der Zwischenzeit wird es mir Freude bereiten, wieder einmal durch ein Objektiv zu blicken. Ich werde auch beenden, was ich an diesem Morgen durch einen Zufall begonnen habe: Ich will das Haus putzen. Ich werde behutsam vorgehen, wenn die Gemeinschaftsräume leer sind. Vielleicht merken es die Mieter. Vielleicht auch nicht.
Das Gezänk, das an diesem Morgen in der Küche losging, setzt sich bei der Zubereitung des Abendessens fort. Der Professor steht am Herd und kocht einen Topf Nudeln.
»Du brauchst zu lange«, beschwert sich eine der ehemaligen Tänzerinnen.
»Und du hast zu viel für eine Person gekocht«, bemerkt ihre Mitbewohnerin. »Du solltest nicht so verschwenderisch sein.«
»Ich bin nicht verschwenderisch«, entgegnet er, während er die Suppe in zwei Schüsseln schöpft und sie mit zwei Paar Essstäbchen und zwei Suppenlöffeln aus Porzellan auf ein Tablett meiner Mutter stellt. Er sieht mich an und fragt: »Hättest du Lust, mit mir im Wintergarten im ersten Stock Nudeln zu essen?«
Das Schweigen am Morgen, als sie mir dabei zusahen, wie ich den Fleck auf dem Boden wegwischte, ist nichts, verglichen mit dem Schweigen, in dem jetzt alle erstarren. Dann schimpfen sie gleichzeitig los.
»Der Wintergarten im ersten Stock ist dein Schlafzimmer!«
»Mit uns teilst du nie Nudeln!«
»Du hast keinen sozialistischen Geist!«
Koch unterbricht das Gezeter mit einer strengen Ermahnung, die an mich gerichtet ist. »Kleines Fräulein, schlechtes Benehmen wird in diesem Haus nicht geduldet.«
Ich sage kein Wort, als ich Dun zur Tür hinaus und nach oben in den Wintergarten folge. Ich war nicht mehr in diesem Raum, seit meine Eltern das Haus aufteilten, um die Zimmer zu vermieten, aber hier ist eine weitere Oase im Meer des kommunistischen Grau, zu dem Shanghai geworden ist. Meiner Mutter muss ihr armer studentischer Mieter leidgetan haben, denn hier stehen einige Möbelstücke, von denen ich dachte, sie seien längst verkauft worden. Das Bett ist gemacht, und die Regale sind mit Büchern gefüllt. Er besitzt auch eine alte Schreibmaschine mit englischer Tastatur und einen Phonographen, an den ich mich noch aus unserer Kindheit erinnere.
Dun stellt das Tablett auf den Tisch, der ihm auch als Schreibtisch dient. Er bedeutet mir, mich auf den Stuhl zu setzen, und zieht sich selbst einen Hocker heran.
»Ich hoffe, wir bekommen keine Schwierigkeiten«, sagt er. »Ich möchte nicht, dass du beim Blockkomitee gemeldet wirst.« Was er als Nächstes sagt, ist noch beunruhigender. »Du siehst schön aus heute Abend.«
Ich bin vor Kurzem Witwe geworden. Ich sollte sofort aufstehen und in mein Zimmer gehen. Doch ich beschließe, anders zu reagieren. Dun und ich sind Freunde. Mehr kann nicht daraus werden.
»Danke.« Ich nehme sein Kompliment an, als wäre es von Tante Hu oder gar Koch gekommen. »Und danke für die Einladung zum Abendessen.«
»Hättest du gerne ein Glas Wein?«
Er öffnet das Fenster und holt eine Flasche Lotuswein herein, die er draußen auf dem Fensterbrett kalt gestellt hat. Das Aroma des Weins liegt leicht auf der Zunge, verbreitet aber sofort Wärme in meiner Brust. Wir essen schweigend. Dun ist ein freundlicher Mann – würdevoll und einfühlsam. Er besitzt eine Eleganz, die mich überrascht, wo doch so vieles in der Stadt gleichförmig und trist geworden ist. In einem anderen Leben – wenn alles anders gelaufen wäre – hätte ich vielleicht jemanden wie ihn geheiratet.
Als die anderen Hausbewohner das Radio im Wohnzimmer einschalten, um die abendliche Russischlektion anzuhören, schiebe ich meinen Stuhl zurück, um zu gehen. Russisch zu lernen, interessiert mich
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