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Tochter des Glücks - Roman

Tochter des Glücks - Roman

Titel: Tochter des Glücks - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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uns. Das sind Menschen, über die ich gelesen habe und die mich inspiriert haben. Sie haben Geschichte geschrieben und ein Land verändert. Als kleines Mädchen habe ich bei der Arbeit an den Filmsets viele Kinostars kennengelernt. Einmal saß ich sogar bei Clark Gable auf dem Schoß. Aber keiner von ihnen hatte das Charisma der Anführer Chinas. Wenn sie den Raum betreten, verändert sich die Luft, lädt sich elektrisch auf, und zwar buchstäblich – sie funkelt und ist voller Kraft. Ich erstarre vor Ehrfurcht.
    Alles ist wunderbar, nur zwei Dinge stören mich. Zum einen – und ich weiß, das ist nicht wichtig – ist es bitterkalt hier. Bei den Empfängen, zu denen wir gehen, wird kaum geheizt. Manchmal gibt es ein Kohlebecken oder einen klapprigen Heizkörper, allem Anschein nach tausend Jahre alt, der Wärme verströmt, aber in einem großen Saal oder einem zugigen Haus, das aus der Ming-Dynastie stammt, hilft das nicht viel. Ich ziehe mir jetzt immer Flanellunterwäsche unter die praktischen Wollkleider an, die mir Z. G. gekauft hat, und dazu einen Pullover, Schal, Mütze und Mantel. Das andere, was an mir nagt, müsste ich wohl als Scheinheiligkeit bezeichnen. Wir leben angeblich in einer klassenlosen Gesellschaft, trotzdem gehe ich auf Empfänge und Festessen mit den höchstrangigen Leuten Chinas. Es ist aufregend, in der Hauptstadt mit dem Vorsitzenden Mao im selben Raum zu sein, aber es ist weit entfernt von der Einfachheit – und Armut – im Gründrachendorf, und das verstehe ich nicht. Das soll nicht heißen, dass ich mich nicht amüsiere. Ich habe viel Spaß, aber mit diesem Aspekt Chinas habe ich nicht gerechnet.
    Abgesehen von diesen schwierigen Fragen, jagt eine Besichtigung oder Feier die nächste. Tagsüber esse ich gedämpfte Teigtaschen, rote Datteln und kandierte Holzäpfel am Stiel von Straßenhändlern, und abends genieße ich bei den extravaganten Festessen Gang um Gang, aber nichts schmeckt für mich so gut wie das Essen im Gründrachendorf. Und ganz bestimmt ist mir niemand so ans Herz gewachsen wie Tao.
    Am Tag des nationalen Kunstwettbewerbs – gefördert von der Künstlervereinigung und der Galerie für Chinesische Kunst, die beide von der Regierung kontrolliert werden – nehmen Z. G. und ich an der Eröffnungsfeier teil. Künstler aus ganz China und von unterschiedlicher Herkunft haben Werke für den Neujahrswettbewerb eingereicht. Gerade als der Vorsitzende der Jury seine Eröffnungsrede hält, betreten wir die Galerie. Während ich zuhöre, bemerke ich, dass auch der Vorsitzende Mao hier ist, ebenso wie mehrere andere wichtige politische Figuren. Einige lächeln in unsere Richtung, aber der Vorsitzende nickt wie gewöhnlich nur kurz herüber.
    »Heute wählen wir das beste Bild zur Feier des bevorstehenden neuen Jahres aus«, wendet sich der Preisrichter an das Publikum. »Fällt die Wahl auf eure Arbeit, werden die Volksmassen sie bei sich zu Hause, in den Fabriken und den Kollektiven an die Wand hängen. Ihr dient den Menschen auf die bestmögliche Art und Weise, indem ihr sie anregt, beim Bau der Straße vom Sozialismus zum Kommunismus zu helfen. Die Juroren erinnere ich daran, dass alte Gewohnheiten und feudalistische Vorlieben im Neuen China keinen Platz haben. Fantasie, Aberglaube und andere reaktionäre Elemente werden nicht geduldet. Aber denkt daran, die Massen wollen im neuen Jahr auch nichts Geschichtliches an der Wand hängen haben!« Mit dieser verwirrenden Botschaft lädt er alle ein, die Ausstellung zu genießen.
    Z. G. bleibt vor jedem Bild stehen. Er fragt, was ich davon halte, und danach sagt er mir, ob ich recht habe oder nicht. Er sieht ganz eindeutig Dinge, die ich nicht sehe, und versteht ihre tiefere Bedeutung, was für mich unergründlich ist. Wir bleiben vor einem Bild mit dem Titel Der große Sieg im Volksbefreiungskrieg stehen. Ich erkläre Z. G., dass das Bild meiner Meinung nach die Menschen ermutigen soll, sich an ihre Freude und an die Feiern in dieser Zeit zu erinnern.
    »Schon«, pflichtet mir Z. G. bei, »aber ist das ein angemessenes Bild für das neue Jahr? Das Kultusministerium sagt uns Künstlern zwar, wir sollen Politik und Geschichte in unseren Werken darstellen, doch wie der Preisrichter eben gesagt hat: Die breiten Massen wollen das nicht auf ihren Neujahrsbildern sehen. Sie sehnen sich nach dem alten Stil, der ihnen ihre Hoffnungen auf Glück, Wohlstand und neue Söhne sowie ihre moralischen und religiösen Prinzipien in Erinnerung

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