Tochter des Glücks - Roman
das mit Logik nichts zu tun hat. Die Toten können die Lebenden einfordern, und Schuldgefühle und Kummer fordern mein Mädchen ein.
»Joy«, sage ich sanft, »kommst du mit zu mir nach Hause? Du hast noch nie das Haus gesehen, in dem May und ich aufgewachsen sind.«
»Warum sollte ich?«
»Weil ich deine Mutter bin und die weite Reise zu dir unternommen habe.«
»Niemand hat dich gebeten herzukommen.«
»Joy!« Die Strenge in Z. G.s Stimme kommt überraschend. Joy blinzelt heftig, denn sie schämt sich und kämpft gegen Tränen an. Zu mir sagt er dann: »Das geschah alles sehr plötzlich. Wir brauchen Zeit, um uns daran zu gewöhnen. Lass Joy ein paar Tage hier, dann bringe ich sie zu dir.«
P EARL
Das Leid des Lebens
15. Februar 1958
Liebe May,
unser Mädchen ist endlich nach Shanghai zurückgekehrt. Sie ist gesund und unversehrt. Das ist erst einmal das Allerwichtigste. Ich war so darauf fixiert, sie zu finden, dass ich nicht genug darüber nachgedacht habe, wie sie reagieren wird, wenn sie mich sieht, oder wie es weitergehen soll. Ich kann nur sagen, wie es ist. Joy möchte nicht nach Hause zurück. Sie glaubt – und das schmerzt mehr, als ich je ausdrücken könnte –, dass sie die Schuld an Sams Tod trägt. Sowenig ich das auch wahrhaben möchte, sie hat zumindest zum Teil recht. Wäre sie nicht Mitglied dieser Studentenvereinigung geworden, hätte das FBI uns niemals näher unter die Lupe genommen.
Wie Du weißt, habe ich Dir die Schuld an allem gegeben, was geschehen ist. Dass Joy weggelaufen ist und ich Deine Hilfe brauchte, war der einzige Grund, weshalb ich überhaupt Kontakt zu Dir gehalten habe. Du hast versucht, mir Deine Gefühle verständlich zu machen – am Flughafen und in Deinen Briefen – aber ich habe Dir nicht zugehört und wollte Dich nicht ernst nehmen. Einerseits bin ich immer noch böse auf Dich, aber als Joy genau dieselben Worte ausgesprochen hat wie Du, da habe ich sie anders gehört. Amnestie. Glaubst Du, sie hätten Sam und mir wirklich Amnestie gewährt? Als Du mir erzählt hast, was Du getan hattest, habe ich Dir Deine Gründe dafür nicht abgenommen. Ich dachte, Du würdest einfach alles sagen, um Dich zu schützen. Aber ich habe mich geirrt. Du hast uns nicht angezeigt, um uns zu schaden. Du hast uns angezeigt, weil Du Sam schützen wolltest, mich und vor allem wahrscheinlich Joy.
Amnestie. Ich wiederhole das Wort immer wieder, und mit jedem Mal bestrafe ich mich ein bisschen mehr. Wenn ich mich getäuscht habe, dann muss sich auch Sam getäuscht haben. Hätten wir gestanden, wäre Sam noch am Leben, und die Familie wäre noch zusammen. Ach, May, Du hättest Joys Gesicht sehen sollen, als sie von Sam gesprochen hat. Es hat mir einen Stich ins Herz versetzt. In all den Jahren wurden so viele Fehler begangen, die in ebenso vielen Tragödien endeten, und nun stehen wir hier. Sam ist tot, und Joy wird so sehr von Schuldgefühlen geplagt, dass sie sich weigert, nach Hause zu kommen – nicht nach Los Angeles und noch nicht einmal in unser altes Haus in Shanghai. Sag mir, was ich tun soll.
Pearl
Ich habe nichts von Z. G. geschrieben, denn ich möchte nicht, dass diese alte Geschichte wieder zwischen uns schwärt. Ich habe das Gründrachenkollektiv nicht erwähnt, Joys politische Ansichten nicht und auch Tao nicht, der wahrscheinlich ein junger Mann ist, den sie auf ihren Reisen kennengelernt hat. Wenn ich an diesen Tao denke, fallen mir lauter Beispiele für das schlechte Urteilsvermögen meiner Tochter ein. In dieser Beziehung gleicht sie ihrer leiblichen Mutter zu sehr. Aber was bringt es, ihr darüber zu schreiben? Ich falte den Brief zusammen, stecke ihn in einen Umschlag und versehe ihn mit unserer Adresse in Los Angeles. Dann stecke ich diesen Umschlag in einen größeren Umschlag, der an den Cousin aus der Familie Louie im Dorf Wah Hong adressiert ist, zusammen mit der Bitte an den Mann vom Familienverband in Hongkong, meinen Brief per Luftpost zu schicken.
Am nächsten Tag kommt ein Brief von May. Er wurde vor zwölf Tagen aufgegeben. Seit dem ersten Päckchen im letzten Oktober habe ich regelmäßig Pakete mit verstecktem Geld von meiner Schwester bekommen. Heute erhalte ich zum ersten Mal einen einfachen Brief. Bestürzt stelle ich fest, dass er bereits geöffnet wurde. Glücklicherweise ist kein einziges Wort durchgestrichen worden.
4. Februar 1958
Liebe Pearl,
ein trauriges Ereignis folgt auf das andere. Vern starb letzte Woche. Nach Sams Tod und nachdem
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