Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
Vom Netzwerk:
scharf steht, dass es wie ein Messer durch die Haut gehen kann. Es ist Sommergras und Blut.
    Hinter dem Gitter legt Jutta den Kopf schräg.
    Hildegard entlockt den zehn Saiten ihre Gedanken, zieht Bruchstücke von Erinnerungen durch die Ausschnitte. Jutta wabert wie Nebel durch das Gitterfenster, erfüllt den ganzen Raum. Uda ist nur ein Insekt, das in einer Ritze verschwindet.
    »Die Wiesen des Paradieses«, flüstert Jutta. »Davids Psalmen«, fügt sie hinzu, mitten in einem Satz, der verschwindet, so wie Erde Regenwasser an sich zieht und weiche, feuchte Schatten zurücklässt. Das Gewicht der verunstalteten Jutta ist mehr, als die Zellenwand ertragen kann, mehr als der Schädel ertragen kann, und alles löst sich auf und zersplittert wie Donner.
    Hildegard kann dem Psalterium die ganze Wiese bei Bermersheim entlocken, vielleicht alle Wiesen, die es auf der Welt gibt, wenn Jutta sie nur sechs Tage in der Woche üben lassen würde. Jutta hört sich ihre Bettelei an und schweigt lange.
    »Drei Tage in der Woche«, sagt sie schließlich.
    Hildegard brennt vor Enttäuschung, starrt auf das Instrument, starrt die Tränen aus den Augen, während sie das Instrument behutsam in das Tuch einschlägt und wegstellt. Sie wird so tun, als sei nichts. Jutta bestraft Ungehorsam. Mit Hildegards Begeisterung für das Psalterium hat Jutta ein neues Mittel bekommen, sie zu züchtigen, und die Musik weggenommen zu bekommen ist schlimmer, als seine eigene, aufrührerische Wut in sich hineinfressen zu müssen.
 
    Nacht wird zu Nacht und wieder zu Nacht. Da sind keine Tage dazwischen, kein Morgenlicht, das die Wände rosa färbt, keine Schatten, die Kreuze auf den Boden werfen. Jutta näht. Meistens betet sie, aber zwischendurch näht sie, stickt unsichtbare Löcher in den Stoff, schafft Platz für den Faden, auf und ab in einer Unendlichkeit. Hildegard kann ihr Gesicht nicht sehen, nur die Konturen ihrer krumm gebeugten Gestalt erahnen, verwischt und doch da. Es ist Juttas Seele, die ich sehen kann, denkt sie, bevor auch dieser Gedanke von Juttas Nadel aufgespießt, abwärts durch den Stoff und auf der anderen Seite wieder hinaufgezogen wird, in einem wirren und Schwindel erregenden Tanz.
    Hildegard hat so feine Hände. So kraftvolle Hände, so weiche und feine und weiße, wie geschaffen für … wie geschaffen … wie . Uda und Jutta sprechen leise miteinander, während Hildegard wieder im Fieber liegt. Sie schläft nicht, denn da ist eine Bewegung im Raum, die ihre Stirn mit Rot und Gold und Schwarz streicht. Die Stimmen gehen durch das Ohr und die Stirn, die eine wird die andere, ich werde du, ich, du, die andere, die kleine Hildegard in einem einzigen unendlichen Strom, als habe der Fluss sie genommen, der Fluss zur Frühjahrszeit, eiskalt und schäumend, als habe er Hildegard genommen und mit seiner Kälte gelähmt, sie mit Blindheit geschlagen und verstört. Sie kann hören, dass da einer ist, der gedämpft lacht, und weiß nicht, ob sie selbst es ist.
    Das Psalterium steht in der Nähe der Feuerstelle, eingepackt in Tuch, aber dennoch tanzt es unter der Decke von Hildegards Kammer. Uda und Jutta sind stumm, sie lauschen auf das plötzliche Lachen der kranken Hildegard. Hildegard hat ein Ei zwischen den Augen. Sie muss sich konzentrieren, damit es nicht auf den Boden kullert. Widerliche, eiskalte schwarze Flammenlecken an der Unterseite der Eierschale, die in himmlisches Feuer ausbricht. Das Licht ist wieder lebend, es ist die Stimme, die zurückkehrt.
    »Höre des Herrn Rede. Süßere Musik wirst du niemals hören«, sagt sie.
    Hildegard kann sich nicht bewegen, alle Kraft des Körpers sammelt sich in der Stirn. Ihre Augen sind offen, sie schläft nicht. Sie sieht den Himmelsraum. Es ist die Art, auf die alles zusammenhängt. Es ist die von Feuer erfüllte Kraft, es ist Gottes Liebe, der Fluss, der wieder ruhig ist, der Hildegard an ein grasbewachsenes Ufer spuckt, die Wolken spiegelt, ihr Gesicht spiegelt, die Pupille spiegelt, den Lichtblitz in der Pupille, tiefer und tiefer hinein in den Strom, der durch die Unendlichkeit der Seele direkt hinauf in den Himmelsraum fließt. Wie das Herz im Körper verborgen ist, ist der Körper in der Seele verborgen, und die Seele trifft auf die Luft, die auf den Himmel trifft, der sich bis zum äußersten Rand der Welt erstreckt.
    Das Ei wächst, es spitzt sich nach oben hin zu, die Schale wird zu Feuer, das so stark leuchtet, dass sie die Augen zusammenkneifen muss. Sie streckt die Hand

Weitere Kostenlose Bücher