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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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verspüre plötzlich ein Verlangen, zu lachenoder zu weinen …« Sie drückt das Gesicht in Udas Ärmel. »Ich kenne mich selbst nicht länger, es ist, als könne ich meine Seele nicht finden, als ob sie in einem Wald aus Gedanken herumflattert, Gedanken, törichte, sündige Gedanken.« Sie setzt sich auf, presst die Hände auf ihre Augen und weint.
    Jutta schlägt die Läden auf. Uda muss sich von Hildegards Griff losreißen. Jutta ermahnt sie streng: Sie hat keinen Zutritt zu Hildegards privater Kammer, nur wenn das Mädchen krank ist oder Pflege braucht. Hildegard weint hemmungslos, und Uda breitet die Arme aus – Jutta kann selbst hören, dass das Kind leidet.
    »Es sind Versuchungen, deren wir uns alle erwehren müssen, dabei kann nur der Herr helfen«, antwortet sie und hebt die Stimme, um sicher zu sein, dass Hildegard sie hört.
    Hildegard springt aus dem Bett, eilt auf ihren nackten Füßen zum Gitterfenster, wild und zerzaust steht sie da.
    »Ich bin ein unwürdiger Mensch«, ruft sie, »ich halte es nicht aus, Jutta, ganz gleich, was ich tue, ist es doch verkehrt.«
    Jutta hebt die Hand, um das Kind zum Schweigen zu bringen, aber Hildegard setzt ihre hysterische Klage fort. Schließlich muss Uda ihr hart ins Gesicht schlagen. Hildegard fasst sich an die Wange und starrt stumm ihr Kindermädchen an. Sie scheint zur Vernunft gekommen zu sein, obwohl sie gefährlich aussieht mit ihren roten Augen und dem tränenbedeckten Kleid. Dann wendet sie sich wieder Jutta zu, wippt von einem Fuß auf den anderen, als beschäftige sie etwas.
    »Wenn es nicht Gott ist, der mir all diese Fragen in den Kopf setzt, wie soll ich dann wissen, dass es Gott ist, der in dem Licht zu mir spricht?«, fragt sie mit einer Stimme, die beinahe verschwindet.
    Jutta zieht sich vom Fenster zurück. Ihre Augen sind violetteSchatten, ein unruhiger Schein zieht sich über ihren Mund. Uda gefällt die Stille nicht. Jutta sollte Hildegard lieber für ihre Aufsässigkeit bestrafen, sie ins Bett schicken, sie einschließen und zehn Tage lang fasten lassen. Die Stille ist nicht zu ertragen. Aber Hildegard kommt in der Stille zur Ruhe. Jutta rührt sich nicht, und die Angst zieht sich um Udas Hals zusammen.
    »Deine Gabe ist von Gott«, bricht Jutta das Schweigen. Uda seufzt vor Erleichterung. »Er hat auf dich gezeigt und dich für würdig befunden. Er hat dich Krankheit überleben lassen, von der niemand glaubte, du würdest sie überstehen, aber mit der Gabe der Seherin geht nicht notwendigerweise einher, dass man ein frommerer Mensch ist oder mehr Liebe in sich trägt. Du musst mehr Kräfte aufwenden, um deinen Sinn zu reinigen und zu bessern, als andere Menschen, Hildegard. Du musst deine Seele erforschen und das, was du in den entlegensten Gegenden findest, in Übereinstimmung mit Gottes Geboten gebrauchen. Aber zuallererst musst du gehorsam sein und dich daran erinnern, dass du dem Herrn mit deinem Schweigen dienst.«
    Hildegard nickt. »Danke, Jutta«, flüstert sie, »tausend, tausend Dank.«
 
    Hildegard wird zu Udas Erstaunen für die nächtliche Unruhe nicht bestraft. Am nächsten Tag ruft Jutta sie zu sich, und sie flüstern lange miteinander. Danach instruiert sie Uda: Das Kind muss mehr Lehre erhalten als die, die Jutta selbst ihr angedeihen lassen kann. Zuallererst soll sie im Infirmarium in Krankenpflege und Medizinherstellung unterwiesen werden, wo sie sehen wird, wie Gott seine Kinder mit Krankheit straft und ihnen zur gleichen Zeit die Gnade der Heilung zuteilwerden lässt. Danach soll Abt Kuno einen passenden Lehrer finden, der Hildegards Unterweisung übernehmen und ihr diegeistliche Wegweisung geben kann, die sie braucht. Sie erlegt Uda zum zehntausendsten Mal Schweigen über die Gabe des Kindes auf, und Uda nickt gehorsam, obwohl sie im Stillen über die ewige Wiederholung verärgert ist. Zu wem sollte sie etwas sagen? Und wer würde einer alten Frau wie ihr zuhören?
    Erst einmal ist Uda verblüfft. Ginge es nach ihr, so sollte das Kind nicht noch mehr lernen. Wie es aussieht, hat all die Lehre nichts Gutes mit sich geführt. Es ist, als ob Jutta ihre Gedanken lesen könne. Auch die Schärfe des Verstands und die Fragelust sind Gaben von Gott, erinnert sie Uda, und dann ist nichts mehr hinzuzufügen.
 

 

14
      
Der Körper hat seine eigene Uhr, und Hildegard wacht von selbst auf, bevor die Glocke zur Matutin läutet. Träume kommen in Schwärmen – nach Wochen ruhigen und erschöpften Schlafs landen sie wie

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