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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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ist, kann Hildegard nicht das Licht in ihrem Gesang hören. Es ist ein heiliger Gesang, der wie ein Schlaflied klingt, schön und einschläfernd. Sie kann die Farben des Gesangs sehen, wenn sie die Augen schließt, aber es fehlen so viele Nuancen. Die Farben des Winters beherrschen die Brüder bis zur Perfektion: das Eisblau des Himmels, das graugrüne Winterfell des Dammwilds, eine Krempe aus Gold über kohlschwarzen Tannen. Die Farben des Herbstes treffen sie punktuell, ebenso das trockene, gelbe Gras des Spätsommers, aber die saftig pralle grüne Kraft des Frühjahrskann sie in ihrem Gesang nicht spüren. Einmal versucht sie, es Jutta zu erklären. Sie singen jede Woche alle Psalmen durch, sagt Jutta nur, und Hildegard sagt nichts mehr.
    Hildegard lauscht mit geschlossenen Augen. Uda kann nie Ruhe halten, ihr Hantieren, ihre raschelnden Röcke, ihr trockenes Husten vermischen sich mit dem Gesang. Udas Geräusche gehören in die gleiche Farbskala wie der Lobgesang der Mönche, und es sind jedes Mal die gleichen Bilder, die Hildegard vor sich sieht: flache, breite Treppenstufen, von Schritten weich geschliffen. Auf dem Weg nach oben oder unten überspringt der Gesang ab und zu ein paar Stufen, hat aber dennoch alle Stufen betreten, wenn der Psalm zu Ende ist. Wer hat die Melodien gemacht, fragt Hildegard, aber Jutta weiß es nicht und bedeutet ihr, still zu sein. Hildegard schämt sich des Trotzes, der sie durchdringt, wenn Jutta auf ihre Fragen nicht antworten kann. Hochmut ist eine Sünde, und ihr Beichtvater erlegt ihr dreitägiges Schweigen als Buße auf.
    In den stummen Bußtagen unterbricht Jutta ihre Unterweisung, und Hildegard muss sich damit begnügen, Uda hinterherzulaufen. Die eintönigen Farben des Mönchgesangs nehmen weiterhin ihre Gedanken ein. Nicht, dass sie den Klang ihres Gesangs nicht mag. Es ist mehr ein Drang, sich quer durch die Laute zu werfen, sie mit ihren eigenen Händen anzuschieben, um sie dazu zu bringen, sich wild und üppig zum Himmel hinaufzuschlängeln. Sie sammelt Laute: Hammer und Meißel des Steinmetz', Schritte, die über den Steinboden der Kirche poltern, das Schaben des Feuerhakens in der Glut. Es ist Winter, und sie sehnt sich nach dem Gesang der Vögel und dem Rauschen des Flusses. Der Hahn kräht jeden Morgen, und der Laut löst sich in der Morgenkälte auf wie Blut in Wasser. Jutta wollte es nicht verstehen, obwohl Hildegard versuchte, es ihrzu erklären. Die Sehnsucht nach dem Licht im Gesang versteht Hildegard nicht einmal selbst. Aber sie spürt sie im Körper, da ist eine dünne Kruste aus Eis unter der Haut, eine Wand zwischen ihr und der Welt. Sie ist jetzt ein großes Mädchen, aber nach der Mahlzeit lehnt sie sich bei Uda an, die den Arm um ihre Schulter legt und sie kurz an sich drückt, bevor sie sie von sich schiebt. Die Eiskruste schmilzt nicht, es tut weh, so zu frieren.
    Sie lauscht die ganze Zeit. Nachts ruft sie nach der heiligen Ursula und ihren elftausend Jungfrauen und allen anderen Heiligen, mit denen sie als kleines Kind sprach. Aber es kommt niemand. Ab und zu gaukelt Benediktas bleiches Gesicht durch die Dunkelheit, doch es ist kein Trost. Die Stimme flüstert, ›Das Lebende Licht‹ ist schwach. Die Eiskruste zerbricht in kleine Stücke und friert hastig wieder zu.
 
    Erst in dem Sommer, in dem Hildegard dreizehn wird, erreicht das von Jutta georderte Psalterium endlich das Kloster. Uda bringt es herein und überreicht es Hildegard. Jutta schlägt die Läden zurück und legt die Stirn an das Gitter, um besser sehen zu können. Hildegards Hände flattern, als sie das Instrument aus dem Tuch packt, und Uda lacht wegen der aufgeregten roten Flecken, die sich ihren Hals entlang und in ihrem Gesicht ausbreiten.
    Hildegard wird nicht müde, die Finger über das helle, polierte Birkenholz und die zehn gespannten Saiten laufen zu lassen. Jutta muss sie durch das Gitterfenster hindurch instruieren. Setz die Finger dort an, halt es so, nein, aufrechter . Hildegard kann nicht warten, auch nicht, wenn die Fingerspitzen abgewetzt sind. Das Psalterium zieht sie an, sie hält es nicht aus, wenn sie nicht spielen kann. Zuerst ist der Laut hässlich undschrill, eine Krähe, die gerne die Stimme einer Nachtigall hätte. Jutta wiederholt ihre Instruktionen, und Hildegard weint, als die Finger nicht so wie die Ohren wollen, dumme Krähenklauen, eine unerträgliche Wärme hinter der Stirn, und dann geschieht das Wunder: Gras, sagt sie, Sommergras, das so rank und so

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