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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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kam, war sie strubbelig wie ein junger Vogel, jetzt ist das Haar eher braun als rot, und in der Sonne hat es die Farbe von Kupfer.
    »Eitelkeit«, sagt Uda warnend und gibt ihr ein Zeichen, sie solle sich wieder setzen.
    »Nein«, sagt Hildegard und tritt einen Schritt zurück.
    »Nein?«
    »Es ist keine Eitelkeit, Gottes Schöpfungswerk zu bewundern«, antwortet Hildegard ernst und setzt sich hin.
    Uda weiß nicht, was sie dazu sagen soll. Vielleicht hat sie recht, obwohl Jutta meint, dass alles, was schön ist und der Welt angehört, Verlockung des Teufels ist. Uda flicht Hildegards Haar und steckt es im Nacken zusammen, bevor sie den weißen Unterschleier stramm um ihren Kopf zieht. Sie sollte Jutta erzählen, was das Kind sagt, aber etwas hält sie zurück.
    Uda wartet darauf, dass Jutta Hildegard die Mysterien des weiblichen Körpers erklärt, so wie sie es ihr zugesagt hat, aber Jutta ist stumm. Uda hat keine Ahnung, ob es ein Wunder Gottes oder eine Krankheit ist, dass Jutta selbst nicht blutet. Mehrere Male schon wollte sie es dem Infirmarius sagen, aber sie wagt es nicht.
    Allmählich kann Hildegard alles lesen, was Jutta auf die Wachstafel schreibt. Sie kann die Psalmen im Schlaf, und sie singt so schön, wenn sie dazu auf dem Psalterium spielt. Zahlen und Kopfrechnen bereiten ihre keine Schwierigkeiten, und auch wenn es mit dem Schreibenlernen nur langsam geht, geht es doch voran. All die Lehre kann Hildegards Wissbegierde nicht dämpfen. Jutta muss die Unterweisung mehrere Male abbrechen, weil sie ständig Fragen stellt. Ein paar Mal ist es, als stelle sie nur Fragen, um zu fragen: unendliche Ketten von Fragen, wobei sich die eine an der anderen festhakt. Es ist ein bodenloser Brunnen, und Jutta gefällt das nicht.
    »Du bist trotzig und ungehorsam«, warnt sie Hildegard, die mit einem aufrichtig verblüfften Gesichtausdruck antwortet. »Nicht alles kann man erklären oder sich durch Denken erschließen. Das ist nicht der Sinn, Hildegard.«
    »Der Sinn?«
    »Jetzt fängst du wieder an.«
    »Ja aber, ich wollte nur …«
    »Hörst du überhaupt nicht, was ich sage?«
    Uda weiß nicht, was sie denken soll. Sie versteht nicht, warum Hildegard wissen will, wie die Sonne die Farbe wechseln kann und was dem Himmel so viele verschiedene Nuancen verleiht. Das ist kein nützliches Wissen wie das der Brüder über Weinanbau oder Juttas Kenntnis der heiligen Schriften. Wenn Hildegard singt, strahlt sie eine so reine Freude aus, dass man davon angesteckt wird. Sobald sie das Instrument weglegt, fragt sie, warum die Brüder auf die eine statt auf eine andere Weise singen. Man sollte meinen, sie habe genug, worum sie sich zu kümmern hat. Es gibt keine Stunden des Müßiggangs, jederAugenblick ist mit Verrichtungen ausgefüllt. Jedes Mal, wenn Jutta Hildegard zurechtweist, bereut sie. Oftmals bricht sie weinend zusammen und ist nur schwer zu trösten. Sie ist von Schuld und Gedanken daran geplagt, dass sie ein sündiger und unwürdiger Mensch ist. Das hören Jutta und Uda, wenn sie sich ihrem Beichtvater anvertraut, aber er bestraft sie selten besonders hart. Jutta erlegt ihr jedes Mal Buße auf, wenn sie etwas sagt, das darauf hindeutet, dass sie Gottes Autorität in Zweifel zieht.
    Für ihre Fragen, wie viele Fische es auf der Welt gibt und warum Gott sich nicht damit begnügt hat, eine Handvoll Arten zu schaffen, darf sie einen Tag und eine Nacht lang nicht reden. Für die Frage, was auf der anderen Seite des Himmelsgewölbes ist und ob die Sterne von jedem gedeutet werden können, kassiert Jutta Hildegards Mahlzeit. Hildegard wächst schnell und ist immer hungrig, und Uda kann es kaum aushalten, vor ihr am Tisch zu sitzen und zu essen. Als sie aber absichtlich einen ansehnlichen Brotklumpen liegen lässt, während sie die Schüsseln zurück ins Küchenhaus trägt, rührt das Mädchen ihn nicht an. Am Abend weint sie in ihrem Bett, und Uda erbarmt sich und schleicht zu ihr hin. Hildegard klammert sich an ihre Hand, sie ist ein kleines Mädchen in einem Körper, der dabei ist, sie zu verraten.
    »Ich bin ein entsetzlich sündiger Mensch«, flüstert sie, und Uda weiß nicht, was sie antworten soll.
    »Wir sind alle Sünder«, sagt sie nur.
    »Mit mir steht es schlimmer«, sagt Hildegard, »ich kann mich nicht beherrschen, ich frage und frage, und selbst wenn ich stillschweige, zerspringt mein Kopf beinahe von all den Fragen. Ich weiß meine Gefühle nicht zu mäßigen. Ich kann in ein Gebet vertieft sein und

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