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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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Bär ein dickes Fell hatte«, beharrt Hildegard, »riss die Kette Wunden in seine Haut.«
    »Du verstehst nichts. Du solltest lieber schweigen, als deineUnwissenheit zur Schau zu stellen«, antwortet Jutta und kommt auf die Beine. Sie nähert sich den Gitterstäben, hebt warnend den Finger.
    »Vater sagte, das Tier sei angekettet, weil es wild sei und den Menschen übelwolle, aber dass es überhaupt nicht auf einem Marktplatz vorgeführt werden, sondern im großen Wald bleiben sollte, wo es sein Zuhause hat«, schnieft Hildegard. Es ist lange her, dass sie geweint hat, aber jetzt kann sie nicht wieder aufhören.
    »Du redest von Bären, aber was weißt du von der Wildheit des Leibes? Du bist nur ein Kind und weißt nichts davon, wie süß die Sünde spricht, wie sie lockt«, schreit Jutta und wirft knallend den einen Laden zu. Hildegard schiebt die Finger zwischen die Gitterstäbe.
    »Zurück, Hildegard, oder ich klemme deine Finger ein!« Hildegard rührt sich nicht.
    »Wenn dein Leib Wunden trägt, wirst du krank werden und sterben«, sagt Hildegard, »meine Mutter sagte allzeit, Wunden seien …«
    »Schweig endlich still«, kreischt Jutta außer sich. »Du versuchst, mich mit deinem albernen Gefasel über Wunden zu schrecken, obschon des Satans Schlange mehr Gift verspritzen kann als jede Wunde, die dem Leib zugefügt werden kann.« Sie drückt den Laden gegen die Hände des Kindes, aber Hildegard zieht sie immer noch nicht zurück.
    »Aber wenn du stirbst, was geschieht dann mit mir?«, weint Hildegard.
    »Mit dir? Du sollst dein Vertrauen niemand anderem als Gott schenken, Hildegard. Dein eigener Wille ist fruchtbare Erde für der Sünde Keim.«
    »Doch wenn der Leib leidet und es weh tut, immer und immerzu, wirst du vielleicht nur an den Schmerz und nicht an Gott denken«, sagt Hildegard.
    Jutta zögert. Sie beugt den Nacken. Dann schlägt sie den Laden so hart zu, dass Hildegard aufheult vor Schmerz.
    Als Uda das verweinte Gesicht und die zerschlagenen Hände des Kindes sieht, will sie wissen, was passiert ist. Hildegard sieht weg.
    »Ich war ungehorsam«, sagt sie mit einer Stimmer so leise, dass Uda sich vorbeugen muss, um zu hören, was sie sagt.
    Ganz gleich, was Uda tut, sie kann das Kind nicht dazu bringen, mehr zu sagen, und Jutta öffnet ihre Läden nicht. Sie legt in Milch getunkte Umschläge um die kleinen Finger, aber obwohl das Kind die Hände vorstreckt und nicht protestiert, ist es, als sei sie überhaupt nicht anwesend.
    Am Abend isst Jutta wieder, und Uda besieht sich zufrieden ihren halbleeren Teller, als sie ihn entgegennimmt. Hildegard geht mit ihrem kleinen verzweifelten Gesicht umher, und Uda fragt sich, welcher Ungehorsam eine solche Reue bei der Kleinen hervorrufen kann. Jutta rasselt wie ein Kettenhund in der Dunkelheit, Hildegard friert vor der Feuerstelle.
 

 

12
      
Wie wäre es gewesen, hätte Hildegard in ihrem letzten Sommer in Bermersheim gewusst, dass sie nie mehr so daliegen würde, wie sie es damals tat – auf dem Rücken im hohen Gras, weit weg von allen anderen? In Stille liegen, in den Lauten, im Duft, im Sommer. Hätte sie es gewusst, hätte sie dann anders über die Zukunft gedacht? Hätte sie sich an Hildeberts Bein geklammert, als der Wagen auf dem Hofplatz in Bermersheim vorgefahren wurde? Hätte sie den ganzen Weg nach Sponheim über geweint, hätte sie Jutta von sich gestoßen?
 
    Sie erinnert sich an das Gefühl des feuchten Atems der Erde am Rücken, den Duft des Grases als einen singenden Ton, beharrlicher als die vibrierenden Grashüpfer. Der Duft des Grases ist am Disibodenberg, in Sponheim, in Bermersheim, in der ganzen Welt der gleiche. Die Luft ist ein Pinsel, der ihn in breiten, saftigen Strichen aus der Erde zieht. Der Grasduft saugt andere Düfte an sich: Kamille, Kerbel, Erde, stille Wasser. Es ist ein fetter Strick, der sich aufwärtswindet, eine grüne Spirale, die zum Himmel steigt, sich mit dem klaren blauen Himmel vermischt, kreideweiße Wolken, die von Westen hereinziehen, eine Heugabel, die die Grastöne in geheime Muster zerreißt.
 
    Hildegard ist ein Katalog aus singenden Düften und Tönen aller Couleur. Sie konzentriert sich darauf, einen Ton vom anderen zu unterscheiden, und sieht Laute als Farben. Sie lauscht dem Gesang der Mönche mit geschlossenen Augen. Im Laufe eines Tages singen sie siebenmal für Gott, weiche Töne steigen und fallen im gleichen Takt. Sie singen, um sich Gott zu nähern, sagt Jutta, aber obwohl es schön

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