Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Frauenzimmer«, sagt er, »öffne die Tür. Glaubst du etwa, die Sünde kommt in Gestalt eines Abts und eines Mönchs, die Geschenke für Jutta bringen?«
Uda fügt sich, trippelt unruhig voran, zeigt stumm auf den Esstisch, auf dem der junge Bruder das Bündel ablegt. Der Abt sagt, Hildegard dürfe es erst öffnen und auspacken, wenn sie und Jutta alleine sind. Der junge Bruder reckt und streckt die Arme und massiert sich die Schultern, er wischt sich den Schweiß mit seinem Ärmel von der Stirn. Hildegard beobachtet ihn neugierig. Uda stößt sie an, sodass sie beinahe umfällt.
Sobald sie gegangen sind, öffnet Jutta ihre Läden. Sie schickt Uda hinaus und bittet Hildegard, den Packen zu öffnen. Eine starke, schmiedeeiserne Kette und ein klobiges, behelfsmäßig zurechtgemachtes Schloss samt Schlüssel fallen rasselnd auf den Tisch. Jutta steht auf Zehenspitzen und drückt das Gesicht gegen die Gitterstäbe.
»Reich alles hier herein«, flüstert sie.
Die Kette wiegt schwer in Hildegards Kinderhänden. Sie ist wie benommen, hebt die Kette an ihr Gesicht und berührt sie mit ihren Lippen, sie ist eiskalt, sie schmeckt wie Blut.
»Gib sie mir, Hildegard«, kommandiert Jutta.
»Warum?«, fragt Hildegard, ohne die Kette abzulegen.
»Ich brauche sie.«
»Wofür?«
»Gib sie mir, Hildegard, dann werde ich es dir erklären.«
Hildegard bleibt einen Augenblick regungslos stehen, bevor sie gehorcht. Das Herz tanzt unruhig im Brustkasten.
Die Kette ist eine Schlange, die von der einen Seite der Zelle zur anderen kriecht. Als sie verschwunden ist, zeigt Jutta auf den groben Stoff.
»Auch das Büßerhemd«, flüstert sie, und erst da erkennt Hildegard, dass der Stoff, in den die Kette gewickelt war, ein knöchellanges Hemd ist. Sie hält es vor sich hin, bevor sie es zusammenfaltet und durch die Luke schickt. Lange, steife Haarestehen in alle Richtungen ab und kratzen an Hildegards Händen.
»Woraus ist es gemacht?«, fragt sie und hält das Ende auf ihrer Seite fest, als Jutta versucht, es zu sich hereinzuziehen.
»Ziegenhaar«, antwortet Jutta und zieht wieder, aber Hildegard ist stark und lässt nicht los.
»Wirst du es tragen?«
»Ja, lass jetzt los, Hildegard.«
»Über deiner Tracht?«
»Nein, darunter, unter meiner Tracht.«
»Auf der nackten Haut?« Hildegard hält den Ärmel mit beiden Händen gepackt, es tut ihr an den Fingern weh, wenn Jutta am anderen Ende zieht.
»Ja.«
»Du hast versprochen, mir zu erklären, wofür du die Kette brauchst.«
»Lass jetzt los, Hildegard.«
»Wofür die Kette?«
»Lass los, Hildegard, gehorche endlich!« Juttas Stimme ist laut und schrill.
»Wofür die Kette?«
»Unmögliches Kind! Ich werde auch sie tragen, unter dem Büßerhemd.«
»Warum?«
»Lass los!«
»Warum?«
»›Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, so werdet ihr leben. Die aber Christus angehören, die haben ihr Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und Begierden.‹«
»Was ist mit mir?«, flüstert Hildegard.
»Was soll mit dir sein, Hildegard?« Jutta gibt es auf, an dem Hemd zu zerren. Ihre Hände zittern.
»Soll auch ich mich peinigen und mein Fleisch kreuzigen?«
»Wir sind nicht eins.«
»Soll ich?«
»Nein, nicht auf diese Weise, Hildegard, denn du und ich sind nicht eins. Dein Fleisch brennt nicht in der gleichen Sünde wie das meinige.«
Hildegard löst ihren Griff um den Ärmel, und Jutta zieht das Hemd zu sich herein. Hildegards Hände schmerzen und sind zerkratzt, sie drückt die Stirn so hart gegen die Gitterstäbe zu Juttas Zelle, dass es weh tut. Jutta sitzt mit der Kette und dem Hemd wie ein Drache, der sein Gold bewacht, auf dem Bett.
»Wirst du die Kette um den Leib tragen? Wirst du das kalte Eisen auf deiner Haut tragen?«, flüstert sie.
»So ehre ich Gott«, sagt Jutta knapp. Wenn sie könnte, würde sie aufstehen und die Läden schließen.
»Wie ein Tier«, weint Hildegard, »wie der Bär, den ich auf dem Markt in Mainz sah, als ich mit meiner Mutter und meinem Vater dort war. Der Bärenbändiger hatte eine Kette, die geradeso schwer wie die deinige war, um den Leib des Bären geschlungen. Er hielt die Kette fest gepackt, und der Bär folgte ihm, als sei er ein Hund und kein wildes Tier. Sein Fell war zerschunden, Jutta.«
»Ich bin kein Bär«, entgegnet Jutta scharf aus dem Halbdunkel. Das aufgelöste Weinen des Kindes irritiert sie.
»Nein, aber obwohl der
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