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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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ist gelb, das macht Hildegard Kummer. Es ist ein ängstlicher Kummer, der aus einer anderen Zeit stammt. Ein Kummer, der wie ein Pfeil durchs Fleisch geht, an brennende Erinnerungen über all den Verlust rührt, den sie erleiden musste, als sie sie fortgeschickt haben.
    Am Abend sitzt Mechthild in der leeren Kirche vor dem Fenster ihrer Tochter. An diesem Tag denkt niemand daran, ihre gemeinsame Zeit zu begrenzen, und Hildegard streckt die Hände hinaus zu ihrer Mutter. Mechthild folgt den Adern auf den feinen Händen ihrer Tochter mit ihren alten Fingern.
    »Dein Vater ist krank«, erzählt sie, aber das hatte Hildegardschon gesehen. Es war sehr ernst im Frühjahr, aber jetzt sah es so aus, als erhole er sich. Hildegard muss versprechen, für Clementia zu beten. Noch ein Kind ist tot geboren worden, es war das fünfte. Mechthild fürchtet, dass Gerbert die Ehe bald annullieren lassen wird, wenn das Kind, das sie trägt, nicht überlebt. Roricus ist nicht länger im Kloster im Mainz, er ist Kanoniker an einem Kloster an der Saar geworden, und der Ruf seiner Frömmigkeit und Güte dringt überallhin. Odilia ist noch kinderlos und hat ihrer Mutter im Geheimen anvertraut, dass sie trotz vieler Jahre Ehe immer noch Jungfrau ist. Sie warten nur darauf, dass eine Untersuchung beweisen wird, dass sie die Wahrheit sagt und die Ehe annulliert werden und sie ins Kloster gehen kann, wie sie es sich lange schon gewünscht hat. Hugo ist Hugo, und über ihn ist nichts Neues zu sagen. Sie haben eine passende Ehefrau für ihn gefunden, und Hildebert hat die Mitgift verhandelt, es ist also nur noch eine Frage der Zeit, bis der Hof in Bermersheim die letzte Heirat für diese Abkunft erlebt. Drutwin erwähnt Mechthild überhaupt nicht. Da das wohl bedeutet, dass Mechthild selbst nichts weiß, fragt Hildegard auch nicht, obwohl er derjenige auf der ganzen Welt ist, von dem sie am allerliebsten Neues hören würde. Kusine Kristin ist tot, gestorben an der Seuche, und hat einen untauglichen Mann und fünf mutterlose Kinder hinterlassen, die Ursula großzieht, so gut sie kann. Zuletzt muss Hildegard versprechen, auch für Irmengards Seele zu beten, sie starb mit ihrem ersten Kind im Kindbett vor vier Jahren, nur siebzehn Jahre alt. Obwohl Mechthild nicht darum zu bitten wagt, nimmt Hildegard auch Benediktas unglückliche Seele in ihr Gebet auf. Dankbar und erleichtert küsst Mechthild ihr die Hände. Sie sprechen nicht darüber, aber Hildegard weiß, dass Mechthilds Herz damals zerbrach und nie wieder geheilt ist. Es ist, als würden die Körperflüssigkeiten durch das gebrochene Herz gefiltert, als seien sie seitdem verkehrt durch ihren Körper gelaufen und haben das Fleisch erschlaffen lassen und den Verstand verkleinert. Es ist unnatürlich, wie Mechthild am Kummer hängt, es ist, als halte sie den Rhythmus des Lebens an, als ließe sie in einer Unendlichkeit Winter auf Winter folgen.
    Vor drei Jahren, als Mechthild sie zuletzt besucht hatte, sprachen sie über Benedikta. Mechthild saß an der gleichen Stelle wie jetzt und weinte über ihre verlorene Tochter. Wieder und wieder fragte sie, warum der Herr sie so hart bestraft und welchen Sinn das Leben habe, wenn ihr alles genommen werde. Hildegard hatte gebetet und gebetet, hatte Psalmen gesungen, hatte versucht, sie zu beruhigen, und konnte ihr nicht eine einzige Antwort geben. Dieses Mal weint Mechthild nicht, sitzt nur stumm und verschlossen da.
    »Dir geht es gut, wie ich höre«, sagt sie endlich. »Du machst gute Fortschritte in allem, was du tust.«
    Hildegard weiß nicht, was sie antworten soll. Sie hat sich nicht sehr wohl gefühlt seit dem Tag, an dem sie eine Frau wurde. Sie sieht ›Das Lebende Licht‹ öfter als je zuvor und hört auch die Stimme klarer als bisher. Gleichzeitig brennt jedoch ein böser Trotz in ihr, eine Wut, gegen Jutta gerichtet, zu der sie vorher grenzenloses Vertrauen hegte. Nachts in ihren Träumen schlägt die Wut aus, wird zu Visionen und Versuchungen, über die sie mit keinem einzigen Menschen sprechen kann. Wenn sie ihre Hände im Gebet faltet, lauscht sie nur noch nach Antworten auf ihren eigenen Zweifel, statt für andere zu beten, wie sie es sollte. Sie versucht, ihr Herz leer und einsam zu machen, sodass es Gott aufnehmen kann. Sie versucht, über sich selbst hinauszureichen und anderen Gutes zu tun. Aber die Selbstbezogenheit ist ein Pfropfen, der sich festgesetzt hat,sodass der gute Wille angehäuft wird und verdirbt. Sie wird schweigsam und

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