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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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Scharen lärmender Dohlen.
    Wenn Hildegard überhaupt zu hoffen wagte, Christus würde sich ihr in einem Traum zeigen, hätte sie erwartet, dass er sich in einer Tracht aus Purpur, Saphiren und Gold zeigt. Sie stellte sich vor, dass das Licht um sein Haar genauso stark leuchten würde wie ›Das Lebende Licht‹, tausendmal stärker als die Sonne. Aber am Tag des Cordius' im März, in den Stunden vor der Matutin, kommt er zu ihr. Seine Krone ist aus Blut und Stein, er sagt: »Steh auf, Geliebte, komm mit, Freundin.« Seine Hände sind aus Fleisch und Blut, sie streicheln ihre Wangen und ihren Hals, sie ruhen auf ihrem Gesicht. Im Traum brennt sie vor Verlangen, seinen Mund auf ihren Lippen zu spüren, aber sie wagt nicht, sich zu bewegen, aus Angst, er würde verschwinden. Er streichelt ihre Brust, legt die Handfläche auf ihr Herz, sagt: »Nun ist der Winter vorbei, es ist die Zeit des Gesangs, die Obstbäume schwellen und die Erde ist schwer von Nässe.«
    Er führt sie zu Hildeberts Hof, es ist eine unbekannte Stille in dem grauen Licht. Sie stehen so dicht beieinander, dass sie die Wärme seines Körpers spüren kann. Er breitet sein Hände aus, so, wie er am Kreuz hing. Quer durch seinen Körper wächst ein Apfelbaum mit grünen Früchten. Hildegard empfängt einen Apfel aus seiner Hand und beißt hinein, er schmeckt süß wie Honig. Eine starke Wärme strömt vom Gehirn zum Schoß, lustvolle Soge, schwindelnde Höhe. Da laufen Füchse zwischen seinen Beinen hin und her, wie folgsame Hunde. Sie beißen unreife Früchte von dem Apfelbaum, sie scharren mit ihren scharfen Klauen in der Erde und lassen ihn ihre Rücken und Köpfe streicheln. Er führt sie zum Brunnen, die Kälte und der Geruch der Tiefe schlagen ihr ins Gesicht. Er drückt sich gegen ihren Rücken und beugt sich zusammen mit ihr vor, aber dennoch ist es nur ihr eigenes Gesicht, das sich im schwarzen Mund des Brunnens spiegelt. Sie will ihr Kopftuch wegreißen, elend vor unerfüllter Liebe. Er hält sie zurück. Aus seinen Händen läuft wohlriechendes Blut über ihr Hemd, es durchdringt den Stoff, ist warm und klebrig an ihren Schenkeln. Hinter dem Steinwall kommt Hildebert auf einem Pferderücken zum Vorschein. Sein Pferd ist sehr klein, er verschwindet in einem Fuchsbau. Ein kalter Wind geht durch ihr Kleid, rüttelt an Christi kreideweißem Gewand. Er kniet vor Hildegard und wäscht Blut von ihren Füßen. Sie schämt sich. Doch er lacht, als er sich erhebt und direkt vor ihr steht. Wieder legt er seine Hände um ihr Gesicht und küsst ihre Lippen.
    »Hildegard«, flüstert er, »dein Name ist Friede, du sollst mich auch weiterhin rufen, wenn ich fort bin.«
    Ein süßer, dunkler Wein strömt von seinem Mund zu ihrem, über Zähne und Lippen. Er hält sie fest, seine Finger umschließen ihr Handgelenk. Eine Ranke ohne Dornen sprießt in ihrem Schoß.
    Als sie aufwacht, fühlt sie eine angenehme Schwere in ihrem Schoß. In der Dunkelheit tanzen feine, brennende Fäden. Immer wieder laufen flatternde Blitze des Traums wie Stöße durch ihren Körper. Sie kämpft nicht dagegen an, versucht aber, die Bilder vorübergleiten zu lassen, ohne sich bei ihnen aufzuhalten. Es ist das geheime Leben des Körpers, das hat nichts mit ihr zu tun, es ist regelrecht wie bei einem Huhn, das noch mit den Flügeln schlägt, nachdem man ihm bereits den Kopf abgeschlagen hat. Sie dreht und wendet das Gefühl, neugierig und forschend: So hat Gott die Frau angelegt. So will der Herr dafür sorgen, dass sich die Frau ihrem Ehemann mit Lust hingeben und seinen Samen in ihren Vertiefungen wachsen lassen soll, so sorgt der Herr dafür, dass Leben entsteht. Als sie ein kleines Mädchen war, erzählte Mechthild ihr alles, was sie über die Mysterien der Fortpflanzung wusste, während sie einer Kuh beim Kalben halfen. Sie erklärte, alle lebenden Wesen besäßen Kräfte, die sie zueinander zögen, um zur Freude Gottes Nachkommen hervorzubringen, Kräfte, die einen Menschen dazu bringen, nach einem anderen zu greifen. Hildegard verstand es nicht, erinnerte sich aber dennoch.
    Als sie mit Jutta darüber spricht, wird sofort der Beichtvater herbeigerufen. Die Versuchungen des Fleisches, sagt Jutta ernst. Hildegard schämt sich nicht. Der Körper ist stark, aber der Glaube wird einen soliden Kanal bauen, der das Verlangen auf Gott lenken wird. Das erklärt sie Jutta, aber die hört überhaupt nicht hin. Der euphorische Rausch der Nacht, der ihren Körper mit Wohlbehagen füllte,

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