Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
Vom Netzwerk:
Gitterstäbe drückt.
    Hildegard sieht ihrer Mutter nach, wie sie durch die Kirche geht. Sie war so froh, als Mechthild kam, um mit ihr zu sprechen. Jetzt hat sie einen Schmerz in der Brust. Sie verurteilte und ermahnte ihre Mutter im Namen Gottes, anstatt sie mit ihrer Liebe zu umfangen.
    Hinter dem Gitter im Gelass ruft Jutta nach ihr, und sie geht widerwillig hinein.
    Juttas Augen schimmern im Dämmerlicht. »Du hast das Richtige getan«, sagt sie, als könne sie Gedanken lesen. »Du gabst ihr das Wort des Herrn, und größere Liebe kann man einem anderen Menschen nicht erweisen.«
 
    Es ist ein warmer Abend, und Hildegard sucht die Einsamkeit im Hof des Innengartens. Sie versucht, sich den Obstgarten bei Bermersheim in Erinnerung zu rufen, bis ins kleinste Detail. Sie denkt an all das, was für die meisten unsichtbar ist, daran, wie Begebenheiten und Gefühle ihre Abdrücke in der Welt hinterlassen können. Die Orte haben ihre eigenen Erinnerungen, die als heimliche Düfte in die Luft entweichen und nur von den wenigen aufgeschnappt werden können, die einen offenen Geist haben und deshalb von größeren Versuchungen geplagt werden als andere. Nur sie konnte merken, dass am Disibodenberg ein junges Mädchen getötet worden war. Nur sie fand, dass die Pflaumen des Baumes, unter dem Benedikta geschändet wurde, danach nach Blut schmeckten.
    Jutta sagt, es gebe noch andere, die die gleiche Gabe haben wie sie, aber sie kennt niemanden und hat noch nie gehört, dass einer beim Namen genannt worden wäre. Ihr ist es noch nie schwergefallen, ›Das Lebende Licht‹ von den Träumen der Nacht zu unterscheiden, es ist gerade so leicht wie Licht von Dunkelheit zu unterscheiden. Aber sie versteht nicht, warum sich Gott nicht damit begnügt, ihren Sinn für seine Botschaften, Bilder und Erklärungen zu öffnen, die sie seine Worte besser verstehen lassen. Wenn ›Das Lebende Licht‹ nicht zu ihr spricht, sind da all die anderen Erscheinungen, die vor ihren Augen brennen. Es sind Voraussehungen und Ahnungen über Vergangenheit und Zukunft, über anderer Menschen Gedanken und innerste Geheimnisse. Es peinigt sie, dass sie es nicht versteht, und noch mehr, dass es ein ewiglich mahlender Lärm ist, den nur die äußerste Konzentration des Gebets übertönen kann. Jutta hilft ihr nicht, und es ist schwieriger geworden, sich ihr anzuvertrauen. Hildegard spürt deutlich, dass jede von ihnen auf ihrer Seite einer Kluft steht, die sich durch ›Das Lebende Licht‹ zwischen ihnen auftut. Trotz ihres Wohlwollens wird Jutta niemals verstehen, wie es sich anfühlt, von Gedanken und Erscheinungen geplagt zu werden und keine Stimme zu haben, die sie ausdrücken kann. Das Glück, das sie fühlt, wenn ›Das Lebende Licht‹ zu ihr spricht, wird in penibel aufgezwungenes Schweigen verwandelt, und sie schämt sich ihres Geizes, wenn sie die Reichtümer des Herrn für sich behält, wird aber beim Gedanken daran, sie mit Jutta zu teilen, gleichzeitig von einer der Scham direkt entgegengesetzten Wut erfasst. Welchen Unterschied sollte es machen? Jutta sagt es höchstens dem Abt weiter, obwohl Hildegard mehrere Male schon zu ihr gesagt hat, dass die Worte, zu denen sie Zugang hat, die Welt wie tausend Fackeln erleuchten könnten. Jutta weiß am besten, Jutta steht Gott am nächsten, aber dennoch ist es Hildegard, zu der Gott spricht. Doch sie solle sich für die Welt unsichtbar machen und nur Gott ihre Gedanken sehen lassen. Sie muss sich in Mäßigung der Rede üben, um nicht den Teufel zu verlocken, sich ihrer Stimme zu bemächtigen.
    Hildegard beißt sich in die Fingerknöchel. Ihr Hochmut, ihre Wut und Undankbarkeit sind Sünden, die ihre schreckliche Natur und Schwäche offenbaren. Aber obwohl sie bereut, kehrt das Gefühl, dass Jutta sich irrt, immer wieder zurück.
    Bald kann sie jeden Tag in den Kräutergarten gehen. Sie freut sich darauf, die Gewächse kennenzulernen, sich die Form ihrer Blätter einzuprägen, wie sie sich zwischen den Fingern anfühlen. Auf das Gefühl von Freiheit und Friede, das der Gedankein ihr weckt, in Zukunft Juttas Gesellschaft und ihrer Unterweisung entrinnen zu können, folgt noch mehr Schuld. Sie bereut, dass sie ungeduldig mit Uda war, dass sie hochmütig gehandelt hat, als sie Dinge besser zu wissen glaubte als Jutta und ihr Beichtvater, sogar besser als Abt Kuno. Hildegard wollte nicht darauf warten, dass sie ihr erlaubten, den Schleier zu tragen, sondern drängte, bis sie nachgaben. Sie fühlt sich wie

Weitere Kostenlose Bücher