Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
reizbar, und sowohl Jutta als auch Uda meinen, sie brauche mehr Aufgaben, in die sie sich vertiefen kann, wenn sie nicht mit Gott spricht. Sie sehen nicht, dass sie von Schuld zerfressen wird. Sie weiß, dass Jutta Abt Kuno von ihrer Gabe erzählt hat und dass sie sich gemeinsam einig geworden sind, ihr die Bedeutung ihres Schweigens einzuschärfen. Dass ihre Stimme nicht ihr gehört, hat Jutta so viele Male gesagt, dass sie das Echo ihrer Stimme immerzu in ihren Gedanken hört. Sie schweigt, aber das Schweigen gibt dem fürchterlichen Trotz noch mehr Nahrung.
»Ich soll meine Lehre in der Pflege der Kranken beginnen«, erzählt sie Mechthild. »Ich soll auch einen neuen Lehrer bekommen, aber Abt Kuno hat ihn noch nicht benannt.«
»Ein Mann?«, fragt Mechthild.
»Einer der Brüder natürlich.«
»Lässt Jutta das zu?«
»Warum sollte sie es nicht zulassen? Ich bin nun Christi Braut, unsere Verbindung ist durch meine Jungfräulichkeit besiegelt, und nichts kann mich von ihm trennen.«
Mechthild sieht auf, etwas beunruhigend Wachsames und Spöttisches funkelt in ihrem Blick, und Hildegard schweigt.
»Hat ein Heilkundiger nach Vater gesehen?«, fragt sie, und Mechthild zuckt zweideutig mit den Schultern.
»Sonst kann er sich auch im Infirmarium untersuchen lassen, während ihr hier seid. Ich weiß, dass einer der Brüder an der Schule von Salerno Medizin und Heilkunde studiert hat.«
»Du bist immer mein bestes Kind gewesen«, flüstert Mechthild, ohne auf den Vorschlag ihrer Tochter einzugehen. Hildegards Herz tanzt vor Stolz.
»Ich bete für euch alle«, sagt sie und berührt durch die Gitterstäbe hindurch die Stirn ihrer Mutter.
»Du betest auch für Benediktas unglückliche Seele«, sagt Mechthild, und Hildegard nickt.
Mechthild fängt plötzlich an zu weinen.
»Seit damals«, jammert sie, »habe ich mein Leben für wertlos gehalten. Du ahnst nicht, wie oft ich daran gedacht habe, allem ein Ende zu setzen, daran, wie ein Mensch unverhofft ertrinken kann, das Gleichgewicht verlieren und von einem Turm fallen kann oder …«
Hildegard zieht erschrocken die Hand zurück, so darf niemand sprechen.
»›Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind, und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben. Der Gerechte muß viel erleiden, aber aus alledem hilft ihm der Herr‹«, flüstert sie.
Mechthilds Weinen hört so abrupt auf, wie es begann. Sie kneift die Augen zusammen.
»Ich habe des Herrn Nähe seit Jahren nicht gespürt«, sagt sie mit einer so lauten Stimme, dass Hildegard sie mit einem Pst auffordern muss, leiser zu sprechen.
»So darfst du nicht reden, Mutter.«
»Nein, das darf ich wohl nicht«, antwortet sie und sieht ihre Tochter trotzig an. »Aber sag mir, wie sollte ich anders reden können? Ich bete jeden Tag, ich halte das Fasten ein, ich beichte und bereue meine Sünden. Meine Seele steht kurz davor, auseinandergerissen zu werden, aber Gott antwortet mir nicht.«
Hildegard schwitzt. Sie kann nicht ruhig auf dem Stuhl sitzen. Wenn Mechthild so spricht, wird der Herr sie hart strafen.
»›Nun gar, wenn du sprichst, du könntest ihn nicht sehen –der Rechtsstreit liegt ihm vor, harre nur seiner!‹«, sagt Hildegard und faltet wieder die Hände.
Mechthild sieht ihre Tochter wütend an, sie zeigt auf sie.
»Wie kannst du so ruhig dasitzen und zu mir sprechen wie ein Priester und nicht wie meine Tochter, mein eigen Fleisch und Blut? Was weißt du von Leid«, faucht sie, »was weißt du von Verlust? Du, die abgeschieden von wirklichem Schmerz lebt, du, die vergessen hat, wo sie aufwuchs, die Liebe vergessen hat, die wir dir gaben.«
»Ich bete für dich, Mutter«, flüstert Hildegard. »›Dieser Zeit Leiden werden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.‹« Sie schlägt das Kreuzzeichen vor Brust und Stirn. »Aber ich habe offenbar nicht inbrünstig genug gebetet.«
Mechthild zuckt mit den Schultern, ein wenig besänftigt.
»Vater ist krank«, flüstert Hildegard. »Wir wissen nicht, wann Gott uns für unsere Sünden straft und wann er uns seine Gnade erweist … er straft uns manchmal durch unsere Nächsten, Mutter. Du musst beichten, für sein und auch dein eigenes Wohlergehen … du musst fasten und … du musst ihm sagen, er solle die Brüder nach ihm sehen lassen.«
»Er will nicht«, sagt Mechthild und steht auf. Sie stützt sich an der Mauer ab und vermeidet es, Hildegard anzusehen, die sich an die
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