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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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ein unwürdiges Wesen, den Kopf viel zu voll mit Lehren, die sie Gott näher bringen sollen, die aber nur Myriaden unbeantwortbarer Fragen und diesen Ungehorsam zu erzeugen scheinen.
    Etwas raschelt im Kies unter der Bank, der Wind flüstert in den Tannen. Am hellen Abendhimmel glitzern einige Sterne, der Tag war lang. Zur Vesper war sie noch leicht und voller Gesang. Jetzt kommt die Nacht, und etwas geht entzwei. Wenn sie die Augen schließt, setzt sich die Dunkelheit in Bewegung. Ihr wird schwindlig, ein Wirbel aus offenen Mündern, ein Chor verzerrter Stimmen, der leiert: Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe?
    Vor drei Tagen strahlte ›Das Lebende Licht‹ rein und klar für sie. Im Licht nahm der Berg Form an, er war grau und schwarz wie Eisen. Hoch droben saß der Herrscher und breitete seine Flügel aus Schatten aus. Am Fuß des Berges stand einer, den sie viele Male in ihren wachen Schauen gesehen, aber dessen Bedeutung sie bislang nie verstanden hat: eine Gestalt, bedeckt mit so vielen Augen, dass man kaum die menschlichen Umrisse ausmachen konnte. Jedes Auge leuchtete, hellwach auf den Herrscher am Gipfel des Berges gerichtet. Es war die Gottesfurcht, jetzt verstand Hildegard. Indem er unablässig wie mit tausend Augen, die niemals schlafen, auf den Herrn starrt, wird der Mensch zu keiner Zeit Gottes Rechtfertigkeit vergessen. Neben der Gottesfurcht stand ein Kind in weißem Gewand undmit Schuhen aus Licht. Die Stimme spaltete die Schatten über dem Berg, Licht floss dick wie Honig und legte sich über das Gesicht des Kindes, um es für die Ankunft des Geistes bereitzumachen. Es ist der Arme im Geist, der keinen Hochmut kennt und weiß, dass alles, was sie Gutes tut, nicht von ihr kommt, sondern von Gott. Hildegard vergräbt ihr Gesicht in den Händen. »›Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden‹«, flüstert sie. Ihr Atem stößt feucht gegen die Handflächen, duftet nach Obst und Korn. Sie wird von Gottes Finger berührt, er setzt sein Mal auf ihre Stirn. Das, was zuvor zerbrochen war, wird auf neue und schönere Weise zusammengefügt, und sie wird vom gleichen goldenen Licht überwältigt, das das Gesicht des Kindes verbarg. Hildegard steht auf, stützt sich taumelnd gegen die Mauer, bevor sie sich zusammenkrümmt und auf die Erde kniet. Sie weint vor Erleichterung, weil sie plötzlich versteht: Wenn sie nicht aus Adams Rippe geformt wäre. Wenn sie nicht schwach und ungelehrt wäre. Wenn ihr Blut nicht dünn schäumen würde, und ihr Inneres voller Luft wäre. Wenn sie nicht geschaffen wäre, ihr Gesicht zu verbergen und Gott zu dienen. Wenn nicht Zweifel und Schwermut wie ein Band um ihren Kopf lägen. Dann würde Gott sie nicht erwählt haben. Weil er aber sie erwählt hat, muss es für alle Zeit und einen jeden deutlich sein, dass die Schauen, die sie selbst nur halbwegs versteht, niemals, niemals, niemals von ihr selbst kommen können. Weder aus ihrer Vorstellungskraft noch aus ihren törichten Gedanken. Weder aus ihrem ziellosen Kreisen um flatternde Punkte oder der Unstetigkeit des Gemüts noch ihrer unbeholfenen, schlichten Sprache. Gott verlangte nach einer leeren Schale, denkt sie. Ein tönernes Gefäß, so zerbrechlich, dass es früher oder später nachgeben und die Schauen hinaus in die Welt fliegen lassen muss. Jutta erlegt ihr Schweigen auf, aber sie weiß, dass sie ihre Schauen früher oder später anderen mitteilen muss, denn so, wie ihr keine eigene Stimme gehört, gehören ihr auch die Schauen nicht, sie ist nur eine Feder für Gottes Geist.
    Als sie aufsteht, ist die Hoffnung ein zerfurchter Stamm: Er spross in ihrem unberührten Schoß und fand Nahrung in ihrem Blut. Seine Krone breitet ihr Laub im tönernen Gefäß ihres Kopfes aus. Auf jedem einzelnen Blatt steht ein Wort. Licht fällt durch die Blätter, grün, weich, gedämpft. Sie lacht in der Dunkelheit, lacht, bis Uda die Tür aufreißt und sie sich zusammennehmen muss.
    In dieser Nacht schläft sie glücklich ein: Alles ergibt wieder einen Sinn.
 

 

16
      
Viermal am Tag gehen zwei Novizen mit Wedeln durch die Liegehalle des Infirmariums und fächern ungesunde Gerüche fort. Auf beiden Seiten des Mittelgangs liegen die Kranken. Im größten Raum liegen die Mittellosen. Der Frauenbereich ist vom Männerbereich durch einen dichten Vorhang getrennt. Manchmal ist es sehr voll, manchmal

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