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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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sein Vater ihn nannte, und Mechthild gefällt das nicht. Hil-de versucht sie, aber er hört nicht darauf. Die anderen Kinder wachsen und verlieren Zähne und ritzen lateinische Wörter in ihre Wachstafeln, aber Mechthild vergisst, wann das eine oder das andere war. Sie heftet sich allein an Hildegards Aufgewecktheit, und die Sorge ist eine Sense, die durch ihre Freude schneidet. Wenn sie mit Absicht falsch zurückrechnet, damit es nicht ganz so merkwürdig erscheint, wird ihreErinnerung beim Gedanken an Roricus und diesen ganzen unglückseligen Sommer wieder geradegerückt.
    Sie weiß, dass Hildegard erst ein Jahr alt war, denn damals sprachen sie von einem Wunder, dass das Kind auf dem Hof herumstolperte, hell und dünn, und seine Arme nach den Hühnern ausstreckte, die in alle Richtungen flüchteten, sodass sie sich vor Lachen schüttelte. Dass sie bereits gehen konnte, war an sich schon unbegreiflich. Sie hatte sich durch den Winter gewimmert und war im Frühjahr selten mehrere Tage am Stück ohne Fieber gewesen. Sie war in die Länge geschossen, aber dabei dünn wie eine Bohnenstange geblieben.
 
    Ihre Arme sind nicht die eines Kleinkindes, die Handgelenksknochen ragen hervor wie bei einem Erwachsenen. Nur die Wangen haben ihre Rundung bewahrt. Und die Augen, die immer aussehen, als wollten sie ihr aus dem Kopf springen. Die Arme in die Seiten gestemmt, begutachtet Mechthild ihr jüngstes Kind. Es ist Zeit für die Mittagsruhe, aber Hildegard schläft nicht gerne. Es ist eine Unruhe in ihr, die Mechthild der gebrechlichen Gesundheit zugeschrieben hat, die sich aber, sobald sie wohlauf ist, in einen Strom aus Leben verwandelt. Das Kind ist nie ruhig, und Agnes ist müde. Mechthild hatte gedacht, das Kindermädchen könne ihr im Haus zur Hand gehen, aber selbst mit einem Seil um den Leib ist Hildegard schwer zu beherrschen. Sie sitzt immer nur einen Augenblick still, wirkt zwar ab und zu, als sei sie in ihre Gedanken versunken, schläft aber tagsüber nur selten ein. Stattdessen schläft sie am Abend früh und wacht auf, bevor die Sonne am Himmel erscheint. Agnes hat Mechthild herbeigerufen. Sie steht neben ihr und folgt dem Kind mit den Augen, Agnes nickt und nickt, wenn Mechthild fragt, ob sie sicher sei. Das Kind hat gesprochen.Nicht Mama oder Papa. Nicht gack gack oder muh oder mäh. Licht, hat sie gesagt, und Agnes ist nicht die Einzige, die es gehört hat. Der Küchenjunge nickt von der Bank am Küchenhaus herüber, wo er in einer Wolke aus Daunen und Federn ein Huhn rupft. Mechthild ruft Hildegard, die fest entschlossen ist, das größte Huhn einzufangen, und nicht reagiert. Also läuft sie zu dem Kind, legt einen Arm um ihren Bauch und hebt sie hoch. Das Kleine streckt seine Arme hinunter zu dem Huhn und schaut missmutig drein, aber Mechthild zwickt sie mit den Lippen in die Backe und bringt das Kleine zum Lachen. »Schau«, sagt Mechthild und zeigt zum Himmel. »Licht«, sagt das Kind. »Licht.«
 
    Wenn das Kind Licht sagt, sollte es auch noch mehr sagen, denkt Mechthild, doch nach dem ersten Sommer kommt eine unheimliche Stille über das Kind. Fragen Mechthild oder Agnes sie, wo der Hund ist, dann zeigt sie bloß. Die Milch, die Schale, die Nase, Mama, Papa, Drutwin, Irmengard, Odilia, Hugo, Benedikta, Clementia, Agnes, sie zeigt auf sie. Und sagt immer noch nur das eine Wort. Oft sagt sie es nur für sich, wenn sie auf dem Boden sitzt, umgeben von ihren Spielsachen. Eine Lederschnur mit gefärbten Perlen, ein Pferd, das Roricus geschnitzt hat, bevor er wegging, eine Puppe, die sie von Hildebert bekommen hat, die ein Glasauge und ein Gesicht hat, das so lebendig wirkt, dass man sich beinahe erschrecken könnte. Ab und zu nimmt Hildegard die Puppe, küsst sie oder legt eine Decke darüber, und wenn sie nicht noch so klein wäre, könnte man glauben, sie tue es aus Höflichkeit und wolle Dankbarkeit für das feine Geschenk zeigen und nicht aus wirklichem Interesse. Sie streichelt den Hunden über den Rücken und schaut sich die Haare an, die an ihren Händen kleben bleiben.Hinter den Hühnern läuft sie nicht mehr her, nimmt aber ihre Körner in die Hand, glotzt sie an, als seien es Edelsteine, und drückt sie mit dem Daumen platt. Sie streckt die Hand in das Licht, das durch die Fensteröffnung hereinfällt, sie legt ihre Wange auf den sonnenwarmen Steinboden. Sie sieht den Staub an, der tanzt, und ihre Hände tanzen mit. Mechthild findet, sie ähnelt einer Verrückten, so wie sie dasitzt. Dass sie

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