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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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als andere. Mechthild schnaubt und findet in ihren hastigen Schritten eine eigentümliche Ruhe. Es ist fast schon so weit, dass Ursula alle Ehre für die drallen Zwillinge, die Kristin zur Welt gebracht hat, für sich in Anspruch nimmt, obwohl sie nichts anderes getan hat, als der Geburt beizustehen.
    Die Erntezeit beginnt, und die ersten Tagelöhner sind bereits auf dem Hof angekommen, um Arbeit zu finden, und bald wird sie so viel damit zu tun haben, für alle einen Schlafplatz und Essen bereitzustellen, dass sie den ganzen Tag über nicht nach Hildegard sehen kann. Dem Kind tut die Ruhe gut und es beklagt sich nicht über seine Einsamkeit. Aber Mechthild ängstigt der Gedanke, eines Tages in die Stube zu kommenund das Kind tot zu finden. Agnes ist da, ganz gewiss, aber auch sie muss im Haus zur Hand gehen, wenn so viele Menschen verköstigt werden wollen.
    Eilig geht Mechthild den unbefestigten Pfad entlang, bis sie das Dorf erreicht und vor dem Haus der Frau steht, wo sie über eine schlammige, nach Urin stinkende Pfütze springt, um die Sicherheit des abgewetzten Trittsteins zu erreichen. Sie muss sich bücken, um durch die Türöffnung hindurchzukommen, blinzelt, damit sich die Augen schneller an die Dunkelheit in dem fensterlosen Raum gewöhnen, in den nur durch das Abzugsloch ein wenig Licht dringt. Ganz hinten im Raum ist der Verschlag für die Kuh; er ist leer, denn solange die Sonne noch am Himmel steht, ist sie zusammen mit den anderen Tieren des Dorfes auf der Allmende. Doch selbst eine Lage frischen Strohs kann den Gestank und die Fliegen nicht vertreiben. Die Frau sitzt auf einer groben Wolldecke an der Wand mit einem Kind an der Brust. Als Mechthild ihr Anliegen vorgebracht hat, stößt die Frau das Kind weg und beginnt, im Dunkel herumzuwühlen. Sie flüstert und murmelt, und obwohl Mechthild keinen Zusammenhang in dem finden kann, was die Frau zischelt und wispert, so hört sie doch Latein und Deutsch und eine Sprache, die sie nicht kennt. Das Atmen fällt ihr schwer in der engen, muffigen Stube, das Kind bewegt sich wimmernd auf einer Wolldecke und reckt den Po in die Luft, saugt an seinen Händen, rollt sich hin und her und kommt dabei der Feuerstelle gefährlich nah. Die Frau streckt Mechthild einen ledernen Beutel entgegen, und als sie ihn nimmt, packt die Frau ihre Hand und hält sie fest. Zeigt sich, dass die Kräuter helfen, wird sie die Frau gut bezahlen, verspricht Mechthild, aber die Frau lässt nicht los. Mechthild muss sich losreißen und wankt rückwärts zur Tür. Die Frau verzieht keine Miene, schiebt eineLocke hinters Ohr und klopft zweimal mit dem Zeigefinger auf den Wangenknochen direkt unter dem Auge.
    Mechthild rennt durch das Dorf. Es war alles noch zu ertragen, bis die Frau das Zeichen mit dem Finger machte, das Mechthild nicht verstand. War es ein Fluch? Eine Mahnung, sie werde sie im Auge behalten?
    Auf halbem Weg den Hügel hinauf zum Hof stolpert sie und stürzt zu Boden. Sie schürft sich Kinn und Hände auf und verliert den Beutel. Keuchend kämpft sie sich hoch, schiebt die Kräuter in ihren Halsausschnitt und humpelt weiter. Ihr Bein schmerzt.
    In ihrem aufgebrachten Zustand kann sie nicht zu Hildegard gehen, ihre Angst würde direkt in das Kind fahren. Das Herz hämmert so heftig, dass sich ihr Kleid über der Brust im Rhythmus der Schläge hebt und senkt. In der Kapelle des Hofes wirft sie sich vor dem Erlöser auf die Knie, der mit seinen aufgemalten Augen siegreich vor sich hin blickt. Herr, reinige mich von meinen Sünden, flüstert sie und ringt die Hände. Sie spricht zum Erlöser, der aus Fleisch und Blut ist und vor dem sie nichts verbergen kann. Hilf mir, flüstert sie, jetzt auf allen vieren, bevor sie sich beschwerlich ausstreckt und auf dem Bauch auf dem kalten Steinboden liegt. Hilf mir . Sie bleibt liegen, bis der Herr einen stabilen Stock in die Speichen des sich drehenden Rades ihrer Gedanken steckt. Dann kommt sie auf die Beine, langsam und mühevoll. Ächzend streckt sie den Rücken und fasst sich an das schmerzende Kinn. Sie tätschelt den Fuß Christi, lässt die Hand auf dem bemalten Holz ruhen, zieht fummelnd den Kräuterbeutel aus dem Halsausschnitt und lässt ihn einen Augenblick auf dem Holzfuß liegen.
 
    Ob es die Kräuter oder Mechthilds Gebete sind, die das Kind gesund werden lassen, weiß niemand, aber Mechthild gelobt sich selbst, nie wieder zu der Frau zu gehen. Das Zeichen mit dem Finger hinterlässt ein Brandmal auf ihrer Seele, und

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