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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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Licht sagt, ist ausgezeichnet, aber warum interessiert sie sich nicht auch für anderes? Mechthild nimmt sie mit hinüber zu den Kühen, damit sie den Mädchen beim Melken zusieht. Das Kind schaut es sich an, streckt aber nicht die Arme aus oder greift nach irgendetwas. Sie trinkt die warme Milch, die eins der Mädchen ihr reicht, zeigt aber keinerlei Anzeichen, dass sie mehr wolle. Sie ist in sich gekehrt und anders als die anderen. Mechthilds Sorgen wachsen schneller als das Kind, und als das Kleine nach einem guten Sommer mit Fieber daniederliegt, kaum dass der erste Frost einsetzt, ist es wie eine Ader, die geöffnet wird und der aufgestauten Angst freien Lauf lässt.
    Mechthild geht selbst in die Speisekammer und holt Kräuter hervor, während Agnes bei dem Kleinen sitzt und ihr Gesicht mit einem Lappen wäscht. Manchmal singt sie dazu, um das Kleine in den Schlaf zu lullen. Aber ihre Stimme bringt das Kind zum Weinen und es dreht das Gesicht von ihr weg. Mechthild kommandiert den Koch herum. Sie bleibt hinter ihm stehen und schaut ihm über die Schulter, während er die Kräuter abkocht, stößt ihn beiseite und übernimmt gereizt die Dosierung, als sei er ein unfähiger Trottel.
 
    Am fünften Tag setzt sich Hildegard im Bett auf, und Agnes ruft Mechthild herbei. Eilig kommt sie gelaufen, gefolgt von Drutwin und Hugo, die ihrer kleinen Schwester zuwinken. Hildegard sitzt kerzengerade im Bett, das rötliche Haar klebt ihr an der Stirn.
    »Sie sieht aus wie ein Mönch«, kichert Hugo. Mechthild findet das nicht komisch und reißt drohend die Hand hoch, sodass der Junge zusammenzuckt. Hildegard stiert geradeaus, als schlafe sie mit offenen Augen. Mechthild legt eine Hand an ihre Stirn. Die Haut ist wieder kühl und trocken, das Fieber ist weg. Dann sinkt sie auf den Stuhl neben dem Bett, auf dem Agnes sonst Wache hält, von Müdigkeit übermannt. Hildegard sieht ihre Mutter an und streckt die Hände aus, Mechthild nimmt die eine Hand, vermag es aber plötzlich nicht, das Kind hochzuheben. Hildegard legt den Kopf ein wenig zur Seite und sieht zum Fenster. Dann legt sie den Kopf in den Nacken und starrt zur Decke. Es sieht ganz sonderbar aus, und Mechthild lässt ihre Hand los, packt sie im Nacken, um ihren Blick in eine andere Richtung zu zwingen. Sie ist steif wie ein Stock. Auch Hugo und Drutwin bemerken, wie sonderbar sich ihre kleine Schwester verhält, stehen ein wenig verlegen am Fußende des Bettes, treten gegen den Bettpfosten und rufen nach ihr: »Hild, Hild, schau mal, Hild.« Aber das Kind ist unerschütterlich, streckt die Arme zur Decke und lächelt glückselig. »Licht«, sagt sie dümmlich, »Licht, Licht, Licht.«
    Mechthild ist wütend und verzweifelt, Drutwin lacht unsicher und Agnes steht nur dumm da, den Schürhaken an der Seite, und glotzt auf das kleine Mädchen und Mechthild, die das Kind an den winzigen Schultern packt und schüttelt. Nichts kann das Lächeln auf Hildegards Gesicht erschüttern, sogar als sie wieder auf das Kissen sinkt und einschläft, lächelt sie. Mechthild eilt aus dem Krankenzimmer, um wieder Luft zu bekommen. Agnes hat das Feuer in Gang gebracht und setzt sich neben das Bett. Sie zieht die Decke bis über den Munddes Kindes, um nicht das Lächeln des Teufels sehen zu müssen.
 
    Als Hildegard aufwacht, ist die Sprache in sie gefahren wie ein Wirbelwind. Mama, sagt sie plötzlich. Und Agnes. Ich habe Hunger, sagt sie. Und Durst. Jede Silbe formt sie mit ihrem kleinen Mund, der zuvor nur Licht sagte, und wieder ist das Haus in Aufregung. Hildebert kommt aus Sponheim, an seinem Sattel baumeln Rebhühner, er riecht nach Pferd und Erde, als er im Zimmer steht und sein Jüngstes anlacht. »Vater«, sagt sie. »Vater ist zu Hause.«
 

 

Das Jahr 1102
    Das Kläffen der Hunde ist moosgrün und schmeckt nach Metall. Es sind Vaters Hunde. Mutters Stimme hat die gleiche Farbe wie das dünne Bier, schmeckt aber weder süß noch bitter, eher als stünde man mit offenem Mund im Wind. Agnes' Stimme leuchtet wie der Himmel nach dem Regen, duftet nach Thymian und nassem Gras. Vaters Worte verändern beständig ihre Farbe: Wenn er mit anderen spricht, hat seine Stimme abwechselnd die Farbe von feuchtem Mutterboden und die der trockenen flachen Steine am Bach. Wenn er zu seiner Hild spricht, wird seine Stimme eine schleierhafte rote Wintersonne. Die Laute flammen auf, laufen zu Mustern zusammen, drehen sich wie ein Kreisel, rund herum und herum.
 
    Als sie das letzte Mal in Mainz

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