Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
waren, sah Hildegard die Mönche am Fluss Wolle färben. Zuerst lag die Wolle in großen Holzbottichen mit verschiedenen Farben. Danach wurde sie im kalten Wasser des Flusses ausgespült, der die Farben in flatternden, länglichen Fahnen mit sich nahm. Wenn sie das Wasser in den großen Bottichen nicht mehr brauchen konnten, kippten sie es in den Fluss. Rot, Ocker, Grün. Die Farben mischten sich zu braunem, trübem Wasser, in dem die Füße der Mönche verschwanden.
Im Wagen nach Bermersheim weinte Hildegard, weil die schönen Farben so hässlich wurden, bevor sie verschwanden. Hugo alberte mit ihr herum, und Mechthild brachte er auch zum Lachen. Hildegard weinte und konnte nicht erklären, warum. Tränen und Rotz liefen ihr in den Mund. Mit ihrem Ärmel wischte Clementia ihr das Gesicht ab, tätschelte ihre Wange und versuchte zu verbergen, dass auch sie mit den anderen lachen musste. Nur Drutwin lachte nicht, sein Arm hing über den Wagenkasten hinaus, er starrte über Felder und Bäume, als hielte er nach etwas Ausschau. Vater lachte auch nicht. Auf dem braun gescheckten Hengst ritt er voran und konnte weder hören noch sehen.
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Mechthild will keine Blumen im Haus haben, nur kleine Lavendelzweige, die unter die Streu auf dem Boden gemischt werden und für einen angenehmen Duft in den Räumen sorgen. Drutwin hört nicht auf sie. Auf einem Tuch breitet er ein Bund Feldblumen vor Hildegard aus und bringt sie dazu, die Namen nachzusprechen: Zypergras, Rainfarn, Schafgarbe, Hahnenfuß. Als er gegangen ist, wirft Mechthild den Strauß in die Glut, woer aufflammt und verkohlt. Drutwin mag seine jüngste Schwester und sitzt lieber an ihrem Bett, als mit den anderen zu spielen. Wenn er bei Vater Cedric im Unterricht war und nicht mit Hildebert, der seinen Sohn zu seinem Pagen gemacht hat, nach Sponheim muss, erzählt er Hildegard alles, was er weiß. Er erzählt von Daniel in der Löwengrube und erklärt, ein Löwe sei wie eine Katze, nur hundert-, nein tausendmal größer, wie ein Pferd oder ein Ochse. Er lebt nicht in den Bermersheimer Wäldern, sondern weit, weit weg, denn die Welt ist größer, als ein Pferd in einem ganzen Jahr laufen kann, und sie sind beide sehr erstaunt.
Hildegards Augen wachsen, wenn sie krank ist. Ihre Haut wird durchsichtig, und am Hals und auf der Brust sind bläuliche Streifen zu sehen. Am schlimmsten ist es in dem Spätsommer, als sie gerade vier Jahre alt geworden ist. Sie hustet, bis sich ihr Gesicht lila verfärbt, sie keucht und ringt nach Luft, und weder Mechthilds abgekochte Kräuter noch ihre Gebete können etwas daran ändern.
Im Dorf sagen die Leute der Frau bereits Böses nach, und so wagt Mechthild nicht, einen Boten zu ihr zu schicken. Wird sie auf dem Hof gesehen, wird sich das bald bis zu Vater Cedric und vielleicht bis nach Sponheim herumsprechen. Ursula erzählte die schlimmsten Gerüchte, als sie im Frühjahr zu Besuch nach Bermersheim kam. Dass bei den Geburten, zu denen die Frau gerufen wird, viele Kinder sterben, weil sie deren Seelen dem Teufel verspricht, kann Mechthild sich nur schwer vorstellen, aber sie wagt es nicht, ihrer Schwägerin zu widersprechen. Statt einen Boten zu schicken, muss sie sich selbst ins Dorf begeben. Als der Husten noch schlimmer wird und nichts zu helfen scheint, macht sie sich auf den Weg. Sie versteht nicht, warum das Kind nicht mit der Jahreszeit kräftiger wird, wenn dochreichlich Früchte an den Bäumen hängen. Die Apfelernte ist besser als jemals zuvor, und der schwere, süße Duft aus dem Pflaumengarten wallt ihr entgegen, als sie durch das Tor geht. Die Getreidefelder sind ein Meer des Reichtums, der Sommer ist gut gewesen, und jede Ähre beugt den Kopf und nimmt dankbar Sonne und Regen entgegen, bekommt dichte, feste Kerne und lange, wetterfeste Stängel. Aber Hildegrad ist mager und schlapp, hustet und röchelt, obwohl sie ihr Absud und Wein gegeben, Kräuter unter ihre Füße gebunden und eine hellrote Decke über ihr Bett gelegt hat. Es muss noch andere heilende Geschenke des Herrn geben, die sie nicht kennt oder die sie übersehen hat, und warum sollte die Frau ihr nichts beibringen können?
Mechthild geht mit langen Schritten, voll des Trotzes, der aus der Einsamkeit erwächst. Ursula macht sich wichtig mit all dem, was sie von den Mönchen in Sponheim gelernt hat, aber obwohl sie für ihre Gelehrtheit ebenso berühmt sind wie für ihren Kräutergarten, ist es hochmütig zu glauben, sie wüssten alles besser
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