Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
nur die junge Richardis von Stade, Juttas jüngere Kusine, folgt ihr mit den Augen. Sie nickt ihr zu und hofft, die scheinbare Ruhe, die sie ausstrahlt, möge ihre eigene Angst überschatten. Richardis zieht die Brauen zusammen und senkt den Blick.
In ihrer Kammer nimmt sie den Schleier ab und legt sich aufs Bett. Kälte dringt aus den Wänden, aber sie kann sich weder dazu aufraffen, die Glut anzufachen noch die feuchte Wolldecke über sich zu ziehen. Morgen ist es genau vier Jahre her, dass Jutta starb, und im Laufe des letzten Jahres hat eine stille und stetig wachsende Verzweiflung von ihr Besitz ergriffen. Sie vermisst Jutta nicht und entschuldigt es damit, dass sie Jutta bei ihrem himmlischen Bräutigam weiß. Sie versucht, sich die ausbleibende Trauer mit der Gewissheit zu erklären, dass alles Irdische verloren werden muss und nur das ewige Leben gewonnen werden kann. Aber das stimmt nicht. Jedes Mal, wenn sie daran denkt, dass Volmar sterben könnte, ist sie außer sich vor Angst. Und letzten Winter, als Richardis mit Fieber niederlag, fand sie keine Ruhe, bevor sie außer Gefahr war. Sie schließtdie Augen und faltet ihre Hände. Richardis kam ins Kloster im Jahr, bevor Jutta starb. Sie war damals erst zwölf Jahre alt, und Hildegard war strikt dagegen, ein Kind aufzunehmen. Ihr war es nicht genug, dass es Juttas Kusine war oder dass Jutta Richardis für fast erwachsen hielt. In Hildegards Augen war sie ein Kind, und sie fühlte einen heftigen Widerwillen, der bald in Wut umschlug, sodass sie mit Fasten und Schweigen Buße tun musste. Hildegard will, dass die Schwestern kommen, weil sie Gott suchen. Verheulte, rotznäsige Kinder haben im Kloster nichts zu suchen. Abt Kuno sagt, dass der Ruf in einem Menschen wachsen kann, dass Gott seine Kinder nicht stets mit gleicher Stärke ruft. Aber Hildegard ist unbeugsam in ihrem Anspruch, ihr Ärger größer als ihre Fürsorge. Weil Richardis aber kam und auch noch Juttas Nichte Agatha mitbrachte, erhielt Hildegard das Recht zu bestimmen.
Richardis war hoch gewachsen für ihr Alter und sah als Zwölfjährige älter aus, als sie war. Sie war ein bemerkenswert kluges Kind mit feinen Zügen und rabenschwarzem Haar. Hildegard wurde von einem Gefühl der Verlegenheit überrascht, als sie sie das erste Mal begrüßte. War Richardis zu Anfang still und sanft, weinte Agatha in einem fort, genau, wie Hildegard es befürchtet hatte. Sie vermisste ihre Mutter, ihre Geschwister, ihren Vater, ja sogar wegen ihres Hofhunds hatte sie geflennt. Hildegard war verärgert über die Unruhe und strafte Jutta mit demonstrativem Schweigen. Nach vierzehn Tagen war die Wut mit ihr durchgegangen, und sie hatte mit der Hand vor dem heulenden Kind auf den Tisch geknallt. Agatha fuhr so erschrocken zusammen, dass sie sich die Lippe blutig biss. Daraufhin erlegte der Beichtvater Hildegard auf, sieben Tage lang barfuß zu gehen, weil sie einmal mehr nicht die Vorgaben Benedikts eingehalten hatte, die Kinder liebzuhaben und ihre Wut zu zügeln. Dennoch sah es so aus, als habe es gewirkt. Agatha hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Auch wenn sie nicht besonders aufgeweckt ist, unterwirft sie sich doch mit Eifer den Regeln des Klosterlebens, und sie hat eine feine und reine Stimme, der es leicht fällt, die anderen im Gesang zu führen.
Hildegard reibt die Handflächen aneinander und denkt an Richardis. Anfangs konnte sie nicht die richtigen Worte finden, wenn sie etwas zu dem Kind sagen wollte, und das hatte sie geärgert und verwirrt. Jetzt spricht sie am liebsten mit ihr und wird ihrer Fragen selten müde. Als Richardis als Fünfzehnjährige die Klostergelübde abgelegt hatte, gab der Abt die Erlaubnis, dass sie Hildegard einmal in der Woche im Infirmarium zur Hand gehen könne. Obwohl Volmar sehen konnte, dass Richardis durchaus klug und hilfsbereit war, warnte er Hildegard mehrere Male davor, sich an sie zu binden. Zuerst tat sie es ab, inzwischen aber spürt sie deutlich, dass andere ihr Verhältnis zu der jungen Frau misstrauisch beäugen und sich mit Getuschel hinter ihrem Rücken nicht zurückhalten. Solchen Dingen begegnet man am besten mit Schweigen, aber als Abt Kuno sie um eine Erklärung bat, fiel es ihr schwer, die Fassung zu bewahren. »Als sie hierherkam, war sie ein Kind, und ich kümmerte mich um sie wie eine Mutter«, antwortete sie ihm. Der Abt mahnte sie, eine Mutter müsse ihre Liebe zu gleichen Teilen an ihre Kinder weitergeben. Damit hatte er sie entlassen und
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