Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Der Kummer ist eines jeden Menschen Eigentum, ihn kann kein anderer tragen. Margreth spricht mit Jutta, sie stickt, geht zur Hand, betet und schweigt. Volmar stellt keine Fragen, und Hildegard erzählt nichts. Er legt kleine, scharfe Steine in seine Schuhe, um sich selbst für besitzerische Gedanken zu strafen. Die Flüsse des Paradieses entspringen an der Quelle des Lebens: Gihon, Pison, Euphrat, Tigris. Das Wasser ist rein, Buße brennt die Sünde fort, der Aschehaufen, der zurückbleibt, ist des Demütigen Wohnstatt. Die Wunden unter Volmars Füßen heilen, als er die Steine herausnimmt.
Hildegard will von der Welt zwischen Schmie und Disibodenberg hören. Volmar hat ihr vom Investiturstreit und dem Konkordat in Worms erzählt, aber davon weiß Margreth nichts. Bischöfe und Äbte sollen nicht Diener des Königs sein wie in der alten Zeit, erklärt Hildegard. Der Papst ist Gottes Stellvertreter auf Erden, und Laien sollen nicht das Recht haben, die Oberhäupter der Kirche zu benennen, denn sie nehmen mehr Rücksicht auf ihre eigenen Interessen als auf Gottes Wille. Der Streit begann, bevor Hildegard geboren wurde, und wurde im vergangenen Jahr durch das Wormser Konkordat beendet. Auf Vermittlung der Fürsten trafen Kaiser Heinrich V . und Papst Calixtus II . im September 1122 eine Vereinbarung, die dem Papst die Macht gibt, die ihm zusteht. Jutta wird wütend, als sie Hildegard so reden hört. Margreths Gedanken sollen nur auf Gott gerichtet sein und nicht auf das, was dieser Welt angehört. Hildegard ist trotzig.
»Wir müssen auch die Welt kennen«, beharrt sie, »auch sie hat Gott erschaffen.«
Jutta betet für Hildegards gebrechliche Seele. Und für die ängstliche Margreth, die meint, die Welt ginge sie nichts an, die aber leicht in die Irre geführt werden kann. Der Weg zu Gott ist hart und steil, Jutta behält Margreth im Auge: Sie soll beweisen, dass sie tatsächlich Gott sucht und nicht nur Zuflucht im Kloster, um der Verdammnis zu entgehen. Sie soll Eifer im Dienst für Gott zeigen, gehorsam sein und ausdauernd. Sich selbst zu finden und eins mit Gott zu werden, das ist eine lange Wanderung.
Öl lässt Margreths Lippen schimmern, ihre Stimme ist wie Wind. Sie hört auf zu weinen. Sie hält das Tuch, das sie gestickt hat, für Hildegard hoch. Hohlstich und Plattstich, Weiß auf Weiß, und der Heilige Geist als klobige Taube.
Zwischen Vesper und Komplet können Margreth und Hildegard miteinander sprechen. Sie sitzen im Innengarten und entkernen Kirschen. Margreth erzählt von der Landschaft bei Schmie und von ihrem ältesten Bruder, dem bei einem Turnier die Hand abgehauen wurde. Danach konnte er mehrere Jahre lang nicht sprechen, und als er endlich die Kraft der Stimme zurückgewann, klang er wie eine Frau.
Hildegard schlägt das Kreuzzeichen vor Mund und Brust. Es ist Sommer, und dunstige Hitze dringt schwül durch die Kleidung. Margreth schwitzt selten, ihre Haut ist warm und trocken. Ihre Lippen schimmern, aber nicht alle Worte sind sanft und glatt:
»Sie sprechen über dich, Hildegard, von Schmie bis Disibodenberg. Sie sagen, du brauchst den Kranken nur die Hände aufzulegen, so werden sie gesund. Sie sagen, du bist Gottes Auserwählte und dass die Erde unter deinen Füßen leuchtet. Siesagen, du kannst in die Zukunft sehen und den Tod vorhersagen.«
»Das ist nicht wahr«, sagt Hildegard ruhig, »das hast du wohl erkannt, Margreth?«
»Sie sagen, deine Mutter und dein Vater wollten dich nicht haben, weil deine Sinne verdunkelt waren. Sie sagen, dass man in Bermersheim wochenlang gefeiert habe, als du fort warst, und das Kloster habe ungeheure Reichtümer bekommen, um dich aufzunehmen. Sie sagen, dass nur Jutta mit ihrem starken Glauben es wage, in deiner Nähe zu sein. Sie sagen, dass schwarze Dämonen auf der Innenseite deiner Augenlider tanzen, dass du in Wahn fällst und mit der Stimme eines Mannes sprichst. Sie sagen, du musst ab und zu eingeschlossen werden, weil du wie ein wildes Tier auffährst. Einmal sollst du beinahe einen der Mönche mit deinen bloßen Händen erschlagen haben, weil dir ein Dämon gewaltige Kräfte verlieh.«
Margreths Lippen schimmern, Kirschsaft spritzt auf ihre Schürze und ihre Hände. In der Hitze duftet der Innengarten nach Saft und Holz und Stein.
»Margreth, du trägst boshafte Gerüchte mit dir, und nur wenn du deine Gedanken enthüllst, kannst du frei werden. Du weinst die Tränen der Scham, und darin tust du recht. Was Menschen sagen, ist nicht viel
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