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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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erfahrenen Mönch zu schicken, nachdem er einen ganzen Winter über von Versuchungen und Zweifel heimgesucht worden war. Mit dem Prior an seiner Seite wurde ein solider Pfeiler errichtet, auf den er sich stützen konnte. Jedes Mal, wennAbt Kuno der Versuchung erlag, das Klosterleben etwas zu angenehm zu gestalten, zog der Prior in die andere Richtung.
    Hildegard deutete das Feuer als Zeichen Gottes, die Frauen mögen mehr Platz bekommen. Der Abt musste sich Bedenkzeit erbitten. Ihre Worte brachten ihn durcheinander, und er wollte nicht mit seinem eigenen Prior in Streit geraten. Aber Hildegard blieb stehen, als habe sie nicht gehört, was er sagte.
    »Ehrwürdiger Vater, wir können den Bereich hinter dem Stallgebäude einbeziehen und eine neue Mauer zwischen der Frauenklause und dem Männerbereich bauen, dichter am Küchenhaus, sodass mehr Platz für uns entsteht«, sagte sie.
    Ein blutiges Kreuz in der Hand eines frommen Mannes, eine Mauer, die gegen alle Vernunft in Brand gerät. Volmar zog die Hand zurück, als Hildegard ihren Zeigefinger mitten in die Wunde legte.
    »Nicht alle werden meinen, das sei eine gute Idee«, antwortete der Abt ungeduldig.
    »›Er ist unser Friede, der aus beiden eines gemacht hat und den Zaun abgebrochen hat, der dazwischen war, nämlich die Feindschaft. Durch das Opfer seines Lebens‹«, flüsterte Hildegard so leise, dass der Abt es gerade noch hören konnte.
    Ob es Dreistigkeit oder Gedankenlosigkeit war, die sie mit den Worten der Bibel über die Vereinigung von Heiden und Juden in Christus sprechen ließ, konnte er nicht ausmachen. Aber da Volmar völlig unbeeindruckt aussah, entschied auch er sich, die Bemerkung zu überhören. Nichtsdestotrotz war es das Bild der gefallenen Mauer, das ihm danach im Gedächtnis blieb, nicht die Höllenflammen des Priors.
    Jeder Mensch hat einen schwachen Punkt. Der des Abts ist seine Ängstlichkeit vor Armut und Mangel, die leicht mit Gier verwechselt werden kann. Die Aufnahme von adligen Jungfrauen ins Kloster bescherte Disibodenberg weitere Mittel. Hildegard kennt den Abt und brauchte keine Umwege zu gehen, um ihn dazu zu bringen, die Vernunft ihrer Worte zu erkennen. Dank Volmars Vermittlung gelang es ihm obendrein, den Prior zu beruhigen. Trotz allem wird dieser immer noch als Neuankömmling betrachtet und ist gezwungen, ein Gleichgewicht zu finden zwischen seinem gottesfürchtigen Drang, sich Geltung zu verschaffen, und den Traditionen, die im Kloster herrschen.
    Selbst nach der Erweiterung steht den Frauen nicht viel Platz zur Verfügung. Hildegard hat ihre eigene Schlafkammer, die anderen Schwestern schlafen im Dormitorium. Es gibt einen Raum für Gespräche, in dem mit etwas gutem Willen Platz für vier Personen ist, und drei kleine Zellen, in die sich die Schwestern zurückziehen und ins Gebet vertiefen können. Es gibt ein kleines Küchenhaus, in dem Elisabeth regiert und den Schwestern Aufgaben zuteilt, die wechselweise den Küchendienst verrichten. Den Mittelpunkt bildet das Refektorium, in dem gegessen und gearbeitet wird. Dort beten sie die Stundengebete, singen die Psalmen, so wie es die Brüder tun, und erhalten von Hildegard Unterricht in den elementarsten Kenntnissen des Lateinischen. Hildegard freut sich über den Gesang der Schwestern, denn nur zum Hochamt und an besonderen Tagen haben die Frauen Zutritt zur Kirche.
 
    Es ist Ende Dezember, und Hildegard war im Infirmarium, um Volmar zu helfen. Sie kommt durch die Tür zur Frauenabteilung und bleibt im Innengarten stehen. Ein Eichhörnchen klettert über die Mauer und sucht zwischen den nackten Büschen nach Futter. Sein rotes Fell leuchtet zwischen den kahlen, schwarzen Gewächsen, es dreht die Ohren ein ganz kleinwenig und gräbt auf gut Glück mal hier und mal da, als habe es vergessen, wo es seinen Vorrat versteckt hat.
    Die meisten der Schwestern haben sich im Refektorium versammelt. Zwischen Non und Vesper können sie reden und sticken. Durch die Tür kann sie ihre Worte nicht verstehen, sie hört nur den Klang der Stimmen. Der Gedanke an die Wärme dort drinnen, an ihre Gesichter und ihr Gerede und ihre Handarbeiten, die sie sich gegenseitig hochhalten und zeigen, saugt die Kräfte aus ihr. Sie deutet auf sich selbst, als sie eintritt, und macht das Zeichen des Schweigens. Wenn sie glauben, sie habe sich selbst Schweigen auferlegt oder von ihrem Beichtvater auferlegt bekommen, werden sie sie in Frieden lassen. Sie wenden sich wieder ihren Plaudereien und Arbeiten zu,

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