Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
außerstande, aus eigener Kraft aufzustehen.
So solide die Mauer gewesen war, so unbarmherzig sie Jutta von der Welt abgeschieden hatte, so leicht war sie unter Hacke und Hammer der Brüder zerfallen. Hildegard wartete nicht, bis sie die letzten Brocken entfernt hatten, bevor sie zu Jutta hineinging. Sie kniete sich neben ihr Bett und drückte die Stirn an ihre brennend heiße Wange. Der Priester kam mit der heiligen Sterbekommunion, um ihr geistlichen Beistand zu leisten und ihr zu der Gewissheit zu verhelfen, ohne Sorge in die Ewigkeit reisen zu können. Jeden einzelnen Tag bis zu ihrem Tod war er zu ihr gekommen, mit der weißen Stola um den Hals und derseidenen Tasche mit der mit Edelsteinen besetzten Pyxis darin, die das heilige, gewandelte Brot enthielt. Jeden Tag zündete er zwei fein gearbeitete Wachskerzen auf einem kleinen Tisch an, den er am Fußende von Juttas Bett aufgestellt hatte. So konnte sie mühelos sowohl das kleine Elfenbeinkruzifix als auch das Glas mit dem Weihwasser sehen. Er reichte ihr den Leib Christi zwischen Daumen und Zeigefinger.
Sankt Oswalds Prophezeiung sollte sich erfüllen. Nach einem kurzen und dunklen Thomastag wachte Jutta am zweiundzwanzigsten Dezember auf und wirkte lebhafter als in den Wochen zuvor. Zum ersten Mal seit zwanzig Tagen setzte sie sich im Bett auf und bat um ihren Schleier. Hildegard band ihn sorgfältig um ihr mageres Gesicht. Danach mussten Margreth, Hildegard und Elisabeth mit vereinten Kräften eine stechende, mit Haaren gefüllte Matratze direkt neben den Eingang zur Frauenklause schaffen und mit kalter Asche bestreuen. Die anderen Frauen saßen stumm im Refektorium, erwartungsvoll oder ängstlich, aber Jutta beorderte sie nach draußen, während Hildegard ihr auf das Sterbelager half.
Im Innengarten biss der Frost in Rachen und Nase. Wie eine versprengte Schar Tiere suchten sie Schutz an der Mauer, schlugen mit den Armen und bedeckten die Gesichter mit ihren Ärmeln. Hildegard konnte Juttas schmächtigen Körper leicht tragen, auch wenn die Kette es erschwerte. Als Jutta auf der mit Asche bestreuten Matratze lag, wollte Hildegard eine Wolldecke über sie legen, aber sie wies den unnötigen Luxus zurück. Ihre nackten Füße waren weiß vor Kälte und stachen unter dem Kleid hervor, als gehörten sie bereits einer Toten. Die Frauen wurden wieder hereingerufen, sie sangen die Psalmen, und der Priester kam, um aus der Heiligen Schrift über Christi letzte Tage zu lesen.
Jutta hatte sich in dem Moment, bevor sie starb, bekreuzigt. Bis dahin hatte sie die Frauen ermahnt, ihre Begegnung mit Christus nicht mit ihrem sinnlosen Weinen zu beeinträchtigen. Als Jutta entschlief, wurden die Schwestern wieder hinaus in die beißende Kälte gejagt, denn Jutta hatte Hildegard auf das Strengste ermahnt, nur sie und Margreth dürften ihren toten Leib zurechtmachen.
Hildegard weinte nicht. Sie schloss Juttas Augen und ignorierte Margreths Schniefen. Hildegard streichelte die Wangen der Toten und ihre Hände und berührte die schmalen, weißen Lippen, aber sie weinte nicht. Sie kniete neben Jutta und wartete, bis Margreth ihre Gefühle unter Kontrolle bekam. Gerne hätte Hildegard Richardis um Hilfe gebeten, die Tote zurechtzumachen, aber sie wollte Juttas Wunsch nicht trotzen und auch kein Gerede riskieren. Damals war Richardis nicht älter als dreizehn und erst seit einem Jahr am Disibodenberg. Hildegard hätte ihre Entscheidung damit entschuldigen können, dass Richardis Juttas Kusine war. Aber sie selbst war es, die sich danach sehnte, durch die Nähe des Mädchens getröstet zu werden, und das war falsch. Es war, als ob Richardis in sie hineinsehen und ihre Gedanken lesen konnte, denn sie hatte den Blick auf ihr ruhen lassen und war einen Moment in der Tür stehen geblieben, bevor sie den anderen Schwestern hinaus in die Dunkelheit und die Kälte folgte.
Obwohl Hildegard sie darauf vorbereitet hatte, dass Jutta eine Kette um den Leib trug, hatte Margreth vor Schreck aufgestöhnt, als sie die Tote entkleideten. Nur mit vereinten Kräften war es ihnen gelungen, die Kette zu lösen, um sie abnehmen zu können. Sie hatte so stramm gesessen, dass sie Kanäle in das Fleisch gefressen hatte, drei rote Querstreifen von der Schulter bis zur Hüfte. Hildegard kommentierte es nicht und ignorierte Margreths nervöse Hände. Um sie nicht weiter zu peinigen, hatte sie Margreth nicht darum gebeten, ihr beim Waschen der Leiche zu helfen, und sie stattdessen angewiesen, Juttas Haar
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